«Ja, es ging wirklich nicht früher», erwiderte Gertrud. «Willy und Mathild Frey übernachten bei uns, und dabei war das Gastzimmer schon besetzt … es ist noch eine Freundin bei mir … ich hatte entsetzliche Scherereien, ich bin noch ganz konfus …»
«Ach, du Armes … ja, das kann man sich denken … komm sitz erst ein wenig ab!»
Gertrud war nahe daran, dieser gütig heitern, in menschlichen Dingen erfahrenen und verständnisvollen Frau unvermittelt alles zu gestehen. Aber in diesem Augenblick fragte Frau Klara neugierig nach dem Ehepaar Frey von Wurzach; sie mußte antworten, und der Augenblick kam nicht wieder.
Sie gingen in den Salon hinüber, wo Gertrud bei den Pulten rasch die vier Streicher begrüßte, den Professor, Albin, ihre Brüder Severin und Paul. Ohne sich in ein Gespräch einzulassen, trat sie zurück und stand plötzlich vor Fred, der sich mit der Hilfe eines Stockes schmunzelnd vom Sofa erhob. «Was, du bist auch da?» fragte sie erstaunt. «Wie geht’s mit dem Fuß?»
«Oh, ganz ordentlich … ich muß auf höheren Befehl noch die Krücke da brauchen, aber … es geht auch ohne.»
Gertrud setzte sich in das andere Ende des Sofas, zur Rechten der Hausfrau, die auf einem Stuhle Platz nahm, und erkundigte sich bei Fred nach den Eltern.
Als die Streicher unmittelbar vor dem Beginn eines neuen Quartetts noch einmal leise die Stimmung der Saiten prüften, bemerkte sie, daß Albin, mit dem Kinn die Geige haltend, sie von unten her kurz und forschend anblickte. Sie spürte sogleich, daß sie errötete, wandte den Blick ab und schaute nicht mehr hin. Während des Spieles saß sie mit geschlossenen Augen da, in einer Beklommenheit des Herzens, die sie vorerst nur undeutlich zur Besinnung kommen ließ, was und wie gespielt wurde. Die gewohnte Umgebung aber, die wechselnden Sätze einer bekannten und geliebten Musik, der Zwang, in den Pausen zu plaudern, und alle diese vertrauten Gesichter entrückten sie doch ihrem wirren Zustand ein wenig.
Als sie aber nach dem Abschied mit Albin und den Brüdern auf die beleuchtete Straße hinaustrat, stürzte sofort wieder die ganze heillose Wirklichkeit auf sie ein.
Sie drückte den Brüdern flüchtig die Hand, beteuerte noch einmal, daß sie zu Fuß nach Hause gehen wolle und wurde von atemhemmendem Herzklopfen befallen, weil sich jetzt sogleich entscheiden mußte, ob Albin sie begleiten oder verlassen werde. Indessen nahm sie von ihm nicht Abschied, sondern blickte ihn an, ohne sich zu gestehen, daß sie ihn damit zur Begleitung geradezu aufforderte. Der eben noch Unentschiedene bat denn auch wirklich darum. Um ihre Erregung zu verbergen, begann sie, nachdem sie freundlich dankend angenommen hatte, sofort von gleichgültigen Dingen zu reden.
Albin war nach dem unvermittelten Ende jenes Gespräches vor dem Bücherschrank und dem darauffolgenden Abschied, bei dem, wie er meinte, Gertrud ihm die Hand verweigert hatte, zur Überzeugung gekommen, daß die junge Frau sich jede mehr als freundschaftlich-gesellige Annäherung verbitten werde. Er hatte es selbstverständlich gefunden und sich trotz seinem absichtlosen Verhalten geschämt, daß er zu weit aus sich herausgegangen war. Mit dem unbedingten Anstand des völlig lautern Menschen und mit seinem besonderen Stolze hatte er beschlossen, das zweifellose Recht Hartmanns auf die ungeteilte Liebe seiner Frau mit keinem Gedanken anzutasten, die Frau selbst unmerklich zu meiden und mit seinen Gefühlen allein fertig zu werden. Während er jetzt, den Geigenkasten unter dem linken Arm, neben ihr dahinschritt, erlebte er die zwiespältigsten Empfindungen; ihre Gegenwart berückte ihn unweigerlich und gaukelte ihm das aufwachende Verlangen wieder als verheißungsvoll und berechtigt vor, obwohl er wußte, daß es hoffnungslos war. Er brannte und es tat weh; aber statt das Feuer zu fliehen, blieb er ihm nahe. Während ihn diese bittersüße Erkenntnis keinen Augenblick verließ, unterhielt er, um seine Befangenheit zu verbergen, mit allem Eifer das von Gertrud begonnene, harmlos nichtige Gespräch.
Sie hatte für den Heimweg die stilleren Straßen gewählt und bog jetzt in einen menschenleeren Weg ein, der sich bei spärlicher Beleuchtung lang auf gleicher Höhe hinzog und zwischen Villen hindurch immer wieder einen Blick hinab auf die Lichter der nächtlichen Stadt gewährte. Dieser Weg kreuzte die Straße, an der sie wohnte; es war nicht mehr weit dahin. «Ach Gott, er kommt mir mit keinem Wort entgegen», dachte sie verzweifelnd, während sie in mattem Tone davon sprach, wie schön es hier am Abend sei, wenn die Stadt da unten im Zwielicht liege.
«Ja, nicht wahr?» antwortete er. «Das habe ich oft erlebt. Wenn die Häuserformen so langsam zurücktreten … jedes neue Licht vertieft die Dunkelheit … und der See hat dann manchmal ganz merkwürdige Färbungen …»
«Ja.»
«Überhaupt, es gibt hier ringsum wundervolle Aussichtspunkte … und die Stadt hat bei jeder Tageszeit ihren besonderen Reiz. Haben Sie schon gesehen, wie sie erwacht, am frühen Morgen?»
«Ja.»
«Ich hab’ es kürzlich gesehen. Sie trat zuerst etwas grau und nüchtern aus der Dämmerung heraus … aber dann lag sie im hellern Licht eine Weile so herrlich still und frisch da unten … das erste Geräusch kam von einem einfahrenden Zug, der mit seinen Lichtern sonderbar übernächtig wirkte … aber fast genau mit der Sonne wurde es laut … Tram, Milchwagen, Hundegebell, allerlei hörte man jetzt, aber gut unterscheidbar, noch nicht als dumpfes Brausen wie untertags … und die Dächer, die höhern Mauern und die Türme strahlten hellgoldig … schön!»
Sie antwortete nicht, aber bei jedem Schritte zögerte sie etwas mehr, und schließlich blieb sie stehen.
Albin verstummte und blickte sie höflich fragend an.
«Ach, ich dachte … ich bin gleich zu Hause …» Sie begann wieder zu gehen. «Ja … könnten wir nicht einmal nachmittags zusammen musizieren? Ich habe mit Paul manchmal Sonaten gespielt, und wenn Sie Lust hätten …?»
«Ich hätte, offen gestanden, wohl Lust», begann er verlegen, «aber … ich kann ja viel zu wenig … es wäre für Sie kein Genuß …» Da sie schwieg, fuhr er fort, sich zu entschuldigen.
«Ist das der einzige Grund?» fragte sie kleinlaut.
«Nein!» antwortete er nach kurzem Zögern, und sowie er das gestanden hatte, entschloß er sich, des Versteckspielens müde, die Wahrheit zu gestehen, wie sie auch wirken möge. Während er aber bis zu diesem Augenblick mit freundlich schüchterner Miene ruhig, klar und folgerichtig gesprochen hatte, brachte er sein Bekenntnis jetzt nur stoßweise und ohne rechten Zusammenhang heraus, wobei er sich nicht an seine Begleiterin wandte, sondern mit angestrengter Sammlung ein aufgeregtes Selbstgespräch zu führen schien. «Nein, der Hauptgrund … der einzige wirkliche Grund ist der, daß ich … Ich bin es Ihnen und Ihrem Manne schuldig, mich zurückzuziehen … und ich tue es auch wegen mir, weil es keinen Sinn hat, mich einem Erlebnis auszusetzen, das mich … ich meine, ich habe ja dies Erlebnis nicht gesucht, ich habe nur auf einmal gemerkt, daß es so ist, daß ich also … daß ich Sie lieb habe …»
Gertrud spürte, wie ihr Körper von einer heißen Welle durchflutet wurde, die ein gleichsam überstürztes Glücksgefühl war und sie zugleich in die ärgste Beklommenheit versetzte. Mit glühendem Gesichte begann sie, rasch und stoßweise durch die geöffneten Lippen atmend, den Schritt so zu beschleunigen, als ob sie ihrem Begleiter davonlaufen wollte. Albin faßte es als Zeichen des Erschreckens und der Mißbilligung auf, aber er blieb an ihrer Seite und versuchte ihr eindringlich klar zu machen, daß er dies alles nur zu seiner Rechtfertigung gestehe und sie in keiner Weise damit zu belästigen wünsche. Erst vor dem Hause, als sie nicht anhielt, sondern, den Schritt wieder mäßigend, die Straße hinab neben ihm weiterging, erkannte er ihre Bereitwilligkeit, ihn anzuhören.
«Ich habe nie daran gedacht, daß mein Gefühl erwidert werden könnte … oder doch nicht im Ernst … das heißt, ich habe nie damit gerechnet», fuhr er fort, schwer bemüht, seine Lage möglichst genau darzustellen, und zugleich verlegen vor Scham über ein so ungewohntes Bekenntnis. «Ich weiß nur, daß Sie mir sehr freundschaftlich gesinnt sind, sonst weiß ich nichts Bestimmtes.