Endlich konnte er antreten. Mit gespielter Gelassenheit warf er das Büchlein dem Warnerknaben aufs Pult, verlangte «Kehr» und legte sich auf die Matratze. Er machte das Gewehr zum Schuß fertig, schlug es an und schmunzelte bei allem Ernst nun doch über die wunderlich erregende Lage, in die er sich da begeben hatte. Sorgfältig suchte er, durch den Visiereinschnitt äugend, das schwankende Korn unter dem runden Schwarz der Scheibe festzuhalten, aber eben das erwies sich als besonders schwierig, das Korn wollte nicht stillstehen, und schließlich drückte er aufs Geratewohl ab. Es geriet nicht wohl, der Schuß saß nicht einmal im Schwarzen, geschweige denn in der Nummer. Er nahm sich ernstlich zusammen, zielte genauer und drückte den zweiten Schuß im richtigen Augenblick ab, aber beim Abdrücken zog er die Waffe unmerklich ein wenig nach unten, er «verzog» den Schuß und fehlte das Schwarze abermals. Beharrlich versuchte er es von neuem, doch erst der fünfte Schuß gelang ihm ruhig und genau; er traf das Schwarze, aber noch nicht die Nummer, während der nächste Schuß, der ihm mißlungen schien, zu seiner Erheiterung mitten in der Nummer saß. Die folgenden zwei Schüsse ergaben Treffer am linken Rand des Schwarzen, worauf er den Zielpunkt etwas nach rechts verlegte und endlich eine verdiente Nummer schoß. Auf denselben Zielpunkt löste er den letzten Schuß, mit dem er zu seiner Verwunderung das Schwarze wieder fehlte; er hatte scheinbar genau gezielt und ruhig abgedrückt, aber das Auge mußte einer der dutzend optischen Täuschungen erlegen sein, die durch den Wechsel des Lichtes bewirkt werden, und so hatte er denn, einen bekannten Fehler begehend, den Schuß «versehen».
Er stand auf, trat gleichmütig zurück und löste eine zweite Marke für die Kehrscheibe. Nach einer halben Stunde lag er wieder auf der Matratze und traf in zehn Schüssen viermal die Nummer, dann vertauschte er den eingehegten kleinen Platz mit einem andern im rechten Flügel, vor den Stichscheiben, und meldete dem Warner mit mürrischer Miene: «Kunst». Fred schoß die «Kunst», der Einsatz betrug sieben Franken, sechzig Prozent der hier konkurrierenden Schützen erhielten Prämien von hundert Franken an abwärts bis zu vier Franken, und als Auszeichnung winkte der Lorbeerkranz. Er schoß, als ob er von frühester Jugend an nichts anderes getan hätte, zuerst die «Kunst» und gleich darauf das «Glück», aber seine entschlossene Haltung half ihm wenig, es gab hier nichts zu erlisten, ja es gab auf der Stufe seines Könnens nicht einmal Glück; das geringste Versagen der Hand, des Auges, die leiseste Erlahmung des Willens kamen im Ergebnis unweigerlich an den Tag; das Schießen war die genaueste Selbstprüfung, hier ging es so nüchtern und unbestechlich zu, wie man es von einer nationalen Angelegenheit nur wünschen mochte. Fred hatte in der «Kunst» einen guten, zwei mäßige und zwei schlechte Treffer, er zählte sie nicht einmal zusammen, es konnte nichts dabei herauskommen; auch das «Glück» war ihm mißlungen.
Er gab das Gewehr zurück und fühlte sich schon versucht, dieser ganzen Schießerei den Rücken zu kehren und seiner Wege zu gehen, als er Christian traf, der ihn auf ungewohnt anteilnehmende, fast besorgte Art fragte, wie es ihm nun ergangen sei.
«Ach …», antwortete Fred grämlich, «alls verluegt, verzoge, verzitteret und vercheibet!» Aber sogleich begann er über seine eigenen Ausdrücke zu lachen, winkte mit der Rechten ab und erkundigte sich nach Christians Ergebnissen.
«Ja, meine erste Serie ist auch verpfuscht», sagte Christian leichthin und schlug vor, nun zum Mittagessen in die Festhütte zu gehen. Gleich darauf dröhnte denn auch in der Nähe als Signal zur Mittagspause ein Kanonenschuß, die Scheiben wurden eingezogen, Schützen und Warnerknaben verließen den Stand, und draußen auf der leuchtend grünen Wiese erschien der geschlossene Zug der Zeiger in ihren roten Blusen und Mützen.
Erst in der Hütte erfuhr Fred nach einigem Drängen, daß sein Vetter die erste Serie immerhin mit neunzehn Nummern beendet, die zweite aber stehend mit sieben und kniend mit neun Nummern so hoffnungsvoll wie nur möglich begonnen hatte. Neidlos bewundernd las er die im Büchlein eingestempelten Treffer, seine Anteilnahme wuchs wieder, und nachdem er auf Christians Verlangen den Hergang der eigenen Bemühung genau erzählt hatte, erschien ihm seine Niederlage nur noch als verdiente und lehrreiche Erfahrung.
Nach der Mittagspause entdeckte Fred im linken Flügel des Standes den Oberstleutnant Fenner, Christians Regimentskommandanten, der kniend schoß.
«Fenner!» bestätigte Christian. «Er hat stehend die Meisterschaft mit acht Nummern angefangen, jetzt, kniend, ist er bei der fünften Nummer.»
Fenner trug einen dunklen, stark benutzten Anzug, einen alten schwarzen Hut und grobe Schuhe. Nichts an seinem Äußern verriet den Offizier, er trat auch im zivilen Leben mit jener Einfachheit auf, deren hartnäckige Betonung unter den Offizieren der Ammannschen Brigade ein gewisses vergnügtes Aufsehen hervorzurufen pflegte. Jetzt kniete er dort und zielte. Er schien das Gewehr nicht einfach so erhoben, sondern wütend angepackt zu haben, er hielt es wie in einem Schraubstock fest, die behaarte Rechte am Kolbenhals, die linke am Magazin, den Rücken gewölbt, die Schultern eingezogen, in einer offensichtlichen äußersten Anspannung, als ob er nicht nur mit dem Auge, sondern mit dem ganzen Körper zielte und mit aller Kraft sich selber abzuschnellen gedächte. Fred sah ihn von rechts, seine regungslose, zornig wirkende Braue, den hervortretenden gebräunten Backenknochen, die unordentlich an den Daumen gedrückte Schnurrbarthälfte, die sich zu sträuben schien, diese ganze, zur Unbeweglichkeit gezwungene, geduckt lauernde Gestalt, und er preßte unwillkürlich die Zähne zusammen. Der Schuß fiel, Fenner entspannte sich gelassen, legte eine neue Patrone ins Magazin und blickte auf die Scheibe, wo eine Nummer gezeigt wurde, dann begann er mit derselben gespannten Kraft und Sammlung wieder zu zielen.
Links von ihm hatte ein dunkelhaariger, schmächtiger Bursche den «Schnellstich» begonnen, der mit acht Schüssen auf eine Minute beschränkt war. Nach jedem Schuß riß er, ohne das Gewehr aus dem Anschlag zu nehmen, in der höchsten Eile den Verschluß zurück, um ihn ebenso eilig wieder einzustoßen, und während die ausgeworfene Hülse noch wegflog, zielte er schon wieder. An seiner Seite stand ein Mitglied des Schießkomitees mit der Uhr in der Hand.
Fred wunderte sich, was dabei herauskommen werde, ging mit Christian hinüber und betrachtete bald diesen eiligen Burschen, bald den Oberstleutnant, den das Schnellfeuer in seiner Nähe nicht im geringsten zu stören schien. Nach dem Ablauf der Minute wurde die Scheibe gewechselt, die Zeigerkelle erschien achtmal, und Fred stellte fest, daß ein einziger Schuß das Schwarze gefehlt hatte. «Weißt du», sagte er leise und nickte anerkennend, «es wird durchwegs doch verdammt gut geschossen. Wenn man sich eine Kompagnie oder auch nur einen Zug solcher Schützen im Gefecht vorstellt … da möchte ich nicht zum bösen Feind gehören.»
«Ja … das hier ist mehr oder weniger eine Auslese, aber … es gibt doch in jedem Zug eine Anzahl solcher Schützen», erwiderte Christian ernsthaft.
«Meinst du, daß in einem Kriegsfall etwas darauf ankäme? Es ist ja ein abscheulicher Gedanke, auf Menschen zu schießen, aber wenn man sich verteidigen müßte … ein Dutzend guter Schützen könnte doch eine ganze vorrückende Kompagnie erledigen.»
«Unbedingt! Man würde zwar vermutlich im Krieg nicht so ruhig schießen können wie hier und selber auch angepfiffen werden, aber in gewissen Fällen käme es doch wahrscheinlich auf die bessern und ruhigern Schützen an. Wenn wir früh genug mit genügend Leuten so an der Grenze lägen, in guten Deckungen und am rechten Ort, dann, glaub’ ich, würden wir keine Maus durchlassen.»
«Ja, das glaub’ ich nun wirklich auch! Allerdings … im Vergleich mit den Nachbarstaaten haben wir kein großartiges Heer …»
«Jaja, aber die würden auch nicht fünfstöckig daherkommen. Sie könnten nicht mehr Leute einsetzen, als in einem Abschnitt Platz haben … und für unsere Grenzen hätten wir Mannen genug.»
«Ja, und sonst … he, du weißt doch, was der deutsche Kaiser vor zwei Jahren bei den Manövern hier für eine Antwort bekommen hat?»
Christian wußte es nicht, und Fred erzählte die Anekdote. Der Kaiser habe im Schützengraben einen schießenden Füsilier angesprochen und nebenbei bemerkt, die Schweizer seien ja freilich gute Schützen, aber im Kriegsfall werde ein Gegner mindestens mit einer doppelt so großen Anzahl aufrücken; was sie dann wohl tun würden? Der Füsilier habe geantwortet: «Dann würden wir zweimal schießen.»
Christian