Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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du! Ich hole noch schnell den Koffer … ich bleibe ein paar Tage im Rusgrund.»

      Als die zwei unzufriedenen Brüder sich dem Bahnhof näherten, drang ihnen der rauschende Marsch einer Blechmusik entgegen, die auf dem freien Platz neben dem Gebäude spielte. Die Julisonne strahlte schon mittägliche Wärme aus dem wolkenlosen Himmel. Der Bahnhof war von aufgeräumt plaudernden und lachenden Schützen dicht besetzt.

      «Ein prächtiger Morgen!» höhnte Paul. «Es ist ja vorauszusehen, was sich weiter entwickeln wird. Radau, Schweiß und Blechmusik. Wenn du einverstanden bist, nehmen wir Zweite.»

      Ein langer Zug fuhr ein, und die Masse der Schützen ging über ein freies Geleise hinweg zerstreut auf die Wagen los. Die Brüder bestiegen ganz hinten ein leeres Abteil zweiter Klasse, aber sie hatten sich kaum niedergelassen, als vom Nachbarwagen her lärmender Andrang einsetzte und ein beleibter Mann die Schiebetür aufriß. «Oha, Zweite!» sagte der Mann wohlgelaunt in tiefem Baß und blieb zögernd stehen, aber die Nachdrängenden schoben ihn vorwärts, besetzten das Abteil unbedenklich und legten ihre Gewehre der Länge nach, den Sitzraum überbrückend, auf die Netzstangen. Neben Paul nahm ein magerer, spitznasiger Sportsmann in Kniehosen Platz, neben Fred ein mürrisch blickender, einfacher Mann mit buschigem Schnurrbart, zwei offenbar ernstlich beflissene Schützen, die auf der ganzen Fahrt ruhig über den Sektionswettkampf sprachen und nur manchmal leise lächelnd nach einem übermütigen Burschen hinsahen, der mit lauten Späßen die Gesellschaft unterhielt. Eine Weile hörte man den dicken Herrn mit dem Baß gutmütig auf die Eisenbahner schimpfen, die zu wenig Drittklaßwagen bereitgestellt hatten, dann ging dort das Gespräch auf die Weltlage über, und der Bassist behauptete, Österreich könne den Krieg gegen Serbien unmöglich eröffnen, wenn Rußland nicht neutral bleibe. Indessen wurde die vordere Tür heftig auf- und zugeschoben, eine trockene Stimme rief: «Alle Billets gefälligst!» Die Schützen griffen nach ihren Fahrkarten, aber es war der Spaßvogel, der gerufen hatte. Ein fröhlicher Lärm entstand, der von keiner Rücksicht auf allfällig mitfahrende Zweitklaßgäste mehr beherrscht wurde.

      Bei der Ankunft am Festort dröhnte ein zu schnell gespielter Marsch der Ortsmusik durch die offenen Fenster des Wagens, auf der Bahnhofstraße standen die Vereine mit ihren Fahnen zum Zuge geordnet, und vor der Wartehalle hob sich eine große bunte Gruppe von der Masse des Publikums ab.

      Fred zog Paul inmitten der aussteigenden Schützen am Ärmel zu dieser Gruppe hin und erklärte dem widerwillig Folgenden, was «dieser ganze Zauber» zu bedeuten habe. «Das Orrrganisations-Komitee des letzten Kantonalschützenfestes», sagte er mit großen Augen scherzhaft wichtig, «überbringt dem Organisations-Komitee des gegenwärtigen Festes die Kantonalfahne. Aber der Hauptakt spielt, glaub’ ich, auf dem Ortsplatz. Hier wird nur abgeholt. Die Herren im schwarzen Wichs mit den Rosetten sind Komiteemitglieder … es gibt übrigens ein paar hundert Komitees … und die Mädels in den Trachten sind Ehrendamen. Lisi ist auch darunter, soviel ich weiß … dort, dort, zu äußerst rechts, siehst du sie?»

      Während beim schneidigen Schmettern der Blechmusik die feierlich aussehenden Herren der beiden Komitees sich begrüßten, die Ehrendamen den Ankömmlingen Wein in silbernen Bechern kredenzten und der Fähnrich mit der Hilfe eines Befrackten die Stangen der Kantonalfahne zusammenschraubte, versuchten die Brüder, näher heranzukommen, aber sie wurden abgedrängt und begaben sich auf den Weg zur nahen Ortschaft.

      Die Straße dahin war beflaggt und wurde zwischen den ersten Häusern von einem bunten Triumphbogen überbrückt, auf dessen efeuumranktem Kartonschild ein gereimter Spruch die Schützen «von nah und fern» willkommen hieß. Die Brüder schritten eben unter dem Bogen durch, als der Zug vom Bahnhof her sich in Bewegung setzte, und da sie die Dorfstraße von wartenden Zuschauern gesäumt sahen, traten sie schon hier beiseite. Während in der Nähe eine Kanone Schuß um Schuß zu lösen begann, rückte die festliche Kolonne, von blau und weiß gewandeten Halbartenträgern eröffnet, mit Marschmusik heran. Dröhnend zogen die Bläser vorbei, die Ehrendamen tauchten auf, fest im Schritt, mit einem fröhlich verlegenen Lächeln, und hinter ihnen schwang ein von der Ehrenwache begleiteter mächtiger Fähnrich das kantonale Banner in der unbewegten Sonntagsluft mit ernster Miene hin und her. Neugierig schmunzelnd blickte Fred seiner Base entgegen, und plötzlich sah Lisi auch ihn; mit einer impulsiven Bewegung hob sie, den Becher schüttelnd, die Rechte und rief unbedenklich laut «Salü Fred», indes ihr ohnehin gerötetes lachendes Gesicht unter der Rundhaube noch mehr erglühte und ihre Beine unter dem schwarzseidenen, von einer bunten Schürze bedeckten Rock aus dem Schritt gerieten. Die übrigen Ehrendamen blickten lächelnd nach dem Gegrüßten hin. Fred schaute der Gruppe nach und sah belustigt, wie Lisi, an der Schnürjacke nestelnd, den Schritt wieder suchte, auf irgendwelche Bemerkungen antwortete und sich auf einmal stramm ausschreitend in die Brust warf. Neue Gruppen, neue Banner folgten, und mit angehängtem Gewehr zog die Masse der Zürcher Schützen vorbei.

      Immer mehr Zuschauer begannen den Zug zu begleiten. Fred schob den Bruder schlendernd am Arm neben sich her und fragte spöttisch, ob er nicht bald für seinen Bericht Notizen machen wolle. Paul antwortete nur mit einem hämischen Grinsen. Auf dem von Giebelhäusern umstellten, mäßig großen Platze war der feierliche Akt der Fahnenübergabe schon im Gang, aber die Brüder blieben im Gedränge stecken und sahen nicht viel davon. Jemand hielt eine Rede, aus der nur einzelne Brocken verständlich waren. Der nächste Redner jedoch begann unerwartet so laut und energisch, daß die Leute überall lächelnd die Hälse reckten, um den stimmgewaltigen Mann nicht nur zu hören, sondern wenn möglich auch zu sehen. Der Redner versicherte nach einem kurzen lokalhistorischen Rückblick, es sei für die hiesige Schützengesellschaft sowie für die ganze Gemeinde eine hohe Ehre, das Fest durchführen zu dürfen. Jeder Schütze, jeder Einwohner sei sich dieser Ehre bewußt und werde alles daran setzen, das ihm erwiesene Vertrauen zu rechtfertigen. In diesem Sinne nehme er das kantonale Banner entgegen und gelobe im Namen seiner Gesellschaft, es bis zum nächsten Kantonalfest in treuer Obhut zu halten. Die Rede fand kurzen, kräftigen Applaus, die Musik blies einen Marsch, Vereinspräsidenten riefen nach ihren Leuten, die Menge geriet in Bewegung.

      «Jetzt ziehen sie auf den Schießplatz, zum Bankett in der Festhütte», erklärte Fred. «Sehr wichtig für dich! Ich meinerseits würde lieber hier im ‹Löwen› essen.»

      Paul nickte schweigend, mit einer Miene, als ob ihm jetzt schon alles einerlei sei, und so betraten die Brüder das nahe Gasthaus, wo sie in der voll besetzten Stube mit Not an einem kleinen Winkeltische Platz fanden und erst nach geduldigem Warten von einer Kellnerin hastig bedient wurden. Fortwährend erschienen neue Gäste, blieben eine Weile beratend unter der Türe stehen und entfernten sich wieder. Fred machte, mit einem Auge zwinkernd, den Bruder auf eine Gruppe von Schützen aufmerksam, die offenbar vom Festplatz kamen und ihr Programm geschossen hatten. Sie versperrten mit angehängtem Gewehr den Eingang, indes der vorderste, ein in mittleren Jahren stehender, dem Anschein nach sehr selbstbewußter Mann mit dunklem Schnurrbart, bereits in die Stube getreten war, ohne den Hut abzunehmen; auf dem Hute trug er einen Lorbeerkranz, und da er sich mit gespielt herausfordernder Miene etwas zu lang nach einem Platz umsah, schien es, als ob er hier prahlerisch allen Gästen sein bekränztes Haupt vorführe.

      Paul nahm zu Freds Vergnügen diesen Auftritt ernst und grinste unverschämt nach dem Manne hin. Fred aber sah dem Schützen an, daß er sich des humoristisch Fragwürdigen seines Auftretens bewußt war und es scherzhafterweise eben deshalb ein wenig übertrieb.

      «Einfach unglaublich!» sagte Paul lächelnd, nachdem der Mann abgetreten war. «Ich habe mir ja die ganze Geschichte schon kraß genug vorgestellt, aber …» Er schüttelte den Kopf.

      «Ach, das ist nicht so schlimm!» erwiderte Fred und begann dem Bruder zu widersprechen, nicht aus Anteilnahme am Fest, sondern um sich an Pauls heiterem Entsetzen zu weiden.

      «Nicht so schlimm! Mein Lieber! Weißt du noch, was es zu bedeuten hatte, wenn bei den antiken Wettkämpfen einem Sieger der grüne Lorbeer gereicht wurde? Und heutzutag brüsten sich alljährlich Hunderte oder wahrscheinlich Tausende von Schweizern mit diesem künstlichen Lorbeerkranz, der als Massenartikel in Fabriken hergestellt wird! Oder vergleiche den alten römischen Triumphbogen, der dem größten und würdigsten Mann errichtet wurde, mit dem für jedermann hingestellten lächerlichen Gerüst da draußen! Das sind Einzelheiten, aber daran läßt