Anwendung 2: Astrophysik – Die Sonne als Ball aus idealem Gas
Die kinetische Gastheorie kann verwendet werden, wenn die Größe der betrachteten Teilchen gegen ihre mittlere freie Weglänge vernachlässigt werden kann. Dass dies auf die dichte Materie im Inneren von Sternen zutrifft, mag zunächst absurd erscheinen. Die Dichte im Mittelpunkt der Sonne ist z. B. eineinhalb mal so groß wie die von flüssigem Wasser, auf halbem Weg zur Oberfläche entspricht sie immer noch der des flüssigen Wassers. Wir müssen allerdings bedenken, dass es sich hier um ein Plasma handelt – einen Aggregatzustand, in dem die Elektronen aus den Wasserstoff- und Heliumatomen, den Hauptbestandteilen der Sterne, herausgelöst sind. Das Plasma besteht folglich aus Teilchen, deren Abmessungen denen von Kernen (etwa 10 fm) entsprechen. Schon bei einer mittleren freien Weglänge von 0, 1pm ist daher unser Kriterium erfüllt: Die kinetische Gastheorie gilt – das Innere von Sternen kann als ideales Gas behandelt werden und wir dürfen die Zustandsgleichung pV = nRT anwenden. Obwohl die Coulomb-Wechselwirkung zwischen den geladenen Teilchen stark ist, sind die kinetischen Energien der Teilchen aufgrund der hohen Temperaturen im Inneren von Sternen noch viel größer, sodass die Annahme, dass die Energie des Systems ausschließlich aus der kinetischen Energie der Teilchen resultiert, ebenfalls akzeptabel ist.
Der Druck im Sterninneren hängt (wie immer bei idealen Gasen) gemäß p = ρRT/M mit der Massendichte ρ = m/V zusammen. Wenn wir annehmen, dass das Sterninnere aus ionisierten Wasserstoffatomen besteht, ist die mittlere Molmasse gleich der halben Molmasse von Wasserstoff (0, 5gmol−1, der Mittelwert der Molmassen von H+ und e−, wobei Letztere nahezu null ist). Auf halbem Weg zum Mittelpunkt der Sonne beträgt die Temperatur 3, 6MK und die Massendichte ist 1, 20 g cm−3 (etwas mehr als die Dichte von Wasser). Daraus ergibt sich ein Druck von 7, 2×1013 Pa oder rund 720 Millionen Atmosphären.
Dieses Resultat können wir mit Gl. (1.10) für den Druck nach der kinetischen Gastheorie kombinieren. Die kinetische Gesamtenergie der Teilchen ist Ekin = ½Nmc2, folglich ist p = ⅔ Ekin/V. Der Druck des Plasmas hängt demnach gemäß p = ⅔ ρkin/V mit der kinetischen Energiedichte ρkin = Ekin/V zusammen, der kinetischen Energie der Moleküle in einem bestimmten Volumen dividiert durch dieses Volumen. Daraus berechnen wir eine Energiedichte auf halbem Wege zum Mittelpunkt der Sonne von rund 0, 11 GJ cm−3. Im Vergleich dazu beträgt die Dichte der kinetischen (Translations-)Energie in unserer Atmosphäre an einem warmen Sommertag (25 °C) nur 0, 15 J cm−3.
Schlüsselkonzepte
1 1. Die kinetische Gastheorie berücksichtigt ausschließlich die kinetische Energie der Gasmoleküle.
2 2. Wichtige Ergebnisse dieses Modells sind die abgeleiteten Beziehungen für den Druck und die quadratisch gemittelte Geschwindigkeit.
3 3. Die Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung (auch Maxwell-Boltzmann-Verteilung) gibt für jede beliebige Temperatur den Anteil der Moleküle eines Gases an, die Geschwindigkeiten innerhalb eines bestimmten Bereiches besitzen.
4 4. Die Stoßzahl (auch Stoßhäufigkeit) ist definiert als die Anzahl der Kollisionen eines Moleküls innerhalb eines Zeitintervalls geteilt durch die Dauer dieses Intervalls.
5 5. Die mittlere freie Weglänge ist die durchschnittliche Wegstrecke, die ein Molekül zwischen zwei Stößen zurücklegt.
Die wichtigsten Gleichungen auf einen Blick
1.3 Reale Gase
Motivation
Reale Gase weichen in ihrem Verhalten von der Modellvorstellung des idealen Gases ab, und es ist wichtig, diese real existierenden Eigenschaften beschreiben zu können. Diese Abweichungen vom idealen Verhalten erlauben es, einen tiefer greifenden Einblick in die Natur der Wechselwirkungen zwischen Molekülen zu gewinnen.
Schlüsselideen
Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen Gasmolekülen sind die Ursache für das nicht-ideale Verhalten der Isothermen und das kritische Verhalten realer Gase.
Voraussetzungen
Dieser Abschnitt baut auf unserer Diskussion der idealen Gase in Abschn. 1.1 auf, und wir werden daraus weitergehende Überlegungen ableiten. Hierzu benötigen wir ein neues mathematisches Werkzeug: die Differenzialrechnung, die es uns ermöglicht, Wendepunkte im Verlauf von Kurven zu identifizieren. Dieses wichtige mathematische Verfahren wird im „Toolkit 5: Differenzialrechnung“ vorgestellt.
Reale Gase erfüllen die Zustandsgleichung des idealen Gases nur im Grenzfall p → 0 genau. Die Abweichungen werden umso deutlicher, je höher der Druck und niedriger die Temperatur ist; am stärksten wirken sie sich am Punkt der Kondensation zur Flüssigkeit aus.
1.3.1 Abweichungen vom idealen Verhalten
Reale Gase weichen von der Zustandsgleichung des idealen Gases ab, weil die Moleküle miteinander wechselwirken: Abstoßungskräfte begünstigen die Expansion, Anziehungskräfte die Kompression.
Die Abstoßung wird nur dann wichtig, wenn sich die Moleküle fast berühren (Abb. 1.16): ihre Reichweite ist kurz, selbst im Vergleich zu typischen Molekülgrößen. Aus diesem Grund sind Abstoßungen nur bei kleinen Abständen der Moleküle von Bedeutung, d. h. bei hohem Druck, wenn sich viele Moleküle in einem kleinen Volumen aufhalten. Anziehungskräfte besitzen dagegen eine relativ große Reichweite, sie wirken über einige Moleküldurchmesser hinweg. Daher sind sie bei Abständen mittlerer Länge (siehe Abb. 1.16) interessant, d. h.wenn die Moleküle einander zwar nahe kommen, sich aber nicht unbedingt berühren. Bei großen Entfernungen zwischen den Teilchen (am rechten Rand von Abb. 1.16) spielen sie keine Rolle mehr. Auch bei sehr niedriger Temperatur, wenn sich die Molekülemit so geringer mittlerer Geschwindigkeit bewegen, dass sie einander “einfangen“ können, werden intermolekulare Kräfte wichtig.
Abb. 1.16 Die Änderung der potenziellen Energie zweier Moleküle mit ihrem Abstand. Große positive Energien bei kleinen Abständen kommen dadurch zustande, dass hier die abstoßenden Wechselwirkungen stark überwiegen. Bei mittleren Abständen ist die potenzielle Energie negativ; die Anziehungskräfte dominieren. Wenn die Entfernung zwischen den Molekülen hinreichend groß wird (rechts), verschwindet die Wechselwirkung und die potenzielle Energie wird null.
Die Auswirkungen dieser Wechselwirkungen werden deutlich, wenn wir die experimentellen Isothermen für Kohlendioxid betrachten, die in Abb. 1.17 gezeigt sind. Das Gas verhält sich demzufolge ideal, wenn die Moleküle weit voneinander entfernt sind, sodass zwischenmolekulare Wechselwirkungen keine Rolle spielen – d. h. bei geringem Druck. Bei mäßigem Druck dominiert die Anziehung, da die Entfernung zwischen zwei Molekülen nur einige Teilchendurchmesser beträgt.