Es findet nach dieser Theorie grundsätzlich eine individuelle Bewertung des Umweltreizes als positive oder negative Anforderung (Reiz, Stress) statt. Was für den einen negativer Stress und damit eine massive Belastung darstellt, hat für den anderen eventuell noch keine Bedeutung in psychologischer Hinsicht erlangt. Die individuelle Bewertung ist also entscheidend für das Ergebnis, ob ein Reiz, der auf eine Person einwirkt, auch als negativer Stress wahrgenommen wird oder nicht. Es findet somit immer eine Interaktion zwischen Individuum und der aufgetretenen Situation statt. Der Stress ist demnach subjektiv und individuell und die Bewertung dieser Wahrnehmung kann somit auch bewusst verändert und beeinflusst werden.
Lazarus hat die kognitive Bewertung der Anforderungen (Reize, Einsatzsituationen) in zwei Phasen unterschieden.
Für die erste Einschätzung zur Ernsthaftigkeit einer Anforderung verwendet er den Begriff primary appraisal (primäre Bewertung). Die Phase beginnt seiner Ansicht nach mit folgenden Fragestellungen: Was passiert gerade? Ist es gut, schädlich oder unwichtig für mich? Führt die Beantwortung der Frage zu der Einschätzung, dass die Anforderung schädlich sein kann, werden die potentiellen Auswirkungen des Stressors bewertet.7
Wird daraufhin eine Handlung als erforderlich angesehen, werden in der secondary appraisal (sekundären Bewertung) persönliche und soziale Ressourcen inklusive der eigenen Handlungsmöglichkeiten für die Bewältigung des Stressors mit einbezogen. Mit den individuellen Möglichkeiten wird dann versucht, die Situation zu bewältigen. Während der gesamten Einsatzphase kommt es zu einer immer fortwährenden Neubewertung der Situation, die sich durch notwendige Änderungen des Verhaltens und der Strategie bei der Bewältigung des Stressors zeigt. (Zimbardo, 1999, S. 376 ff.)
Lazarus & Launier (1981) differenzieren des Weiteren zwischen der psychischen Bedrohung und der Herausforderung. Ebenso entwickelten Lazarus & Folkmann (1987) die Möglichkeit, dass eine Situation auch als Nutzen, Vorteil oder Gewinn bewertet werden kann. Aufgrund der vorher beschriebenen kognitiven Bewertungsprozesse wird eine Situation oder ein Ereignis entweder als irrelevant, günstig bzw. positiv oder als stressend aufgefasst und eingestuft. Hierbei spielen die individuellen Möglichkeiten, vorhandene Strategien zur Stressbewältigung sowie Einstellungen und Überzeugungen der Person eine zentrale Rolle.
„Aus psychologischer Sicht setzt Stress die Feststellung voraus, dass die Transaktion ein Risiko (Bedrohung), Schädigung/Verlust oder eine Gelegenheit beinhaltet, die Probleme zu überwinden und sich weiter zu entwickeln (Herausforderung), indem mehr als die normalen Fähigkeiten aktiviert werden. Wenn eine Anforderung die Fähigkeiten übersteigt, fühlt sich das Individuum sozusagen überwältigt (Trauma) und besiegt. Der Schweregrad hängt dabei davon ab, was auf dem Spiel stand (Wertungsdisposition). Die Folge könnten Erschöpfung, Zusammenbruch, Regression oder Dekompensation sein (um einige der Begriffe der klinischen Psychologie zu gebrauchen).“
(Lazarus/Launier, 1981, S. 226)
Akuter und chronischer Stress
Die allgemeine Stressforschung unterscheidet nicht nur in positiven oder negativen Stress, sondern auch zwischen akutem und chronischem Stress. Die Dauer des erlebten Umweltreizes (Stressors) hat eine grundlegende Bedeutung für die individuelle Wahrnehmung und Bewertung.
Die kognitive Bewertung einer Stresssituation ist für die Deutung und späteren Bewältigung einer Einsatzsituation von zentraler Bedeutung. Kommt es zu einer falschen Deutung, kann das gerade bei Polizeibeamten im Einsatz zu fatalen Folgen führen.
Stress (Akut)
Der akute Stress ist grundsätzlich ein vorübergehender physischer und psychischer Erregungszustand. Die körperliche Anpassung an einen Reiz ist normal und eine der wichtigsten Bedingungen, um sich veränderten Situationen optimal anpassen zu können. Abbildung 6 verdeutlicht die auftretenden Stressphasen.
Akuter Stress:
Der Erregungszustand steigt stark an und kann nach der Bewältigung (Angriff oder Flucht) und eine Erholungsphase wieder seinen Ruhezustand erreichen.
Abbildung 5
Abbildung 6
Beispielsachverhalt
Phase 1 (Vorphase): Zwei Polizeibeamte werden zu einer Ruhestörung gerufen. Beide Beamte haben bis zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Erkenntnisse, außer dass es sich um eine polizeiliche Standardlage handelt, die routiniert abgearbeitet werden soll.
Phase 2 (Alarmphase): Im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses kommt ihnen eine männliche Person entgegen und greift die beiden Beamten plötzlich mit einem Messer an.8 Beide Polizeibeamten versuchen sich möglichst schnell aus der Gefahrenzone zu begeben und setzen das Einsatzmittel Pfefferspray ein. Durch die einsetzende Wirkung können die beiden Polizeibeamten den Mann nun überwältigen und entwaffnen.
Phase 3 (Widerstandsphase): Die Person wird aufgrund der weiteren Sachverhaltsaufnahme zur Wache verbracht. Die Situation ist beruhigt und die Beamten können eine Pause machen. Sie sprechen über den Einsatz (Nachbereitung) mit ihren Kollegen und gehen nach der Nachtschicht nach Hause.
Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass der akute Stress einen klaren Anfang und ein absehbares Ende enthält. Im Gegensatz dazu ist der chronische Stress zu sehen.
Chronischer Stress
Problematisch wird es bei einer weiteren Häufung von Stressoren. Häufen sich im Verlauf mehrerer Dienste weitere belastende Einsätze, in denen beispielsweise Gewalt eingesetzt bzw. selbst erfahren wird, kann es zu einer Dauerbelastung kommen. Die inneren und äußeren Ressourcen zur Stressbewältigung werden durch die Betroffenen grundsätzlich niedriger wahrgenommen, als der chronische Erregungszustand. Der Stresslevel kann nicht mehr abgebaut werden und führt im schlimmsten Fall zur Aufhebung der Erholungsphase (Abb. 7). Dieser andauernde Erregungszustand wird von den Betroffenen als äußerst belastend empfunden. Wiederholen sich Einsätze und Schichtabläufe dieser Art und treten zusätzlich außerberufliche Belastungen auf, kann chronischer Stress die Folge sein, der auch gesundheitliche Folgen für die Beamten hat. Der Körper ist aufgrund der eingeschränkten Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage, auf akut belastende Einsatzlagen entsprechend zu reagieren. Erhöhte Fehlerqouten sind die Folge und führen im schlimmsten Fall zu schwerwiegenden Einsatzentscheidungen für sich selbst und andere.
Chronischer Stress: Durch anhaltenden Stress wird die Erholungsphase aufgehoben und die Stresskurve liegt dauerhaft über der Normalgrenze. Gesundheitliche negative Folgen wie Belastungsstörungen, erhöhte Fehlerqouten im Einsatz und das Burnout Syndrom etc. können entstehen.
Abbildung 7
Traumatischer Stress
Die Stressbelastung, die als tatsächliches, extrem stressreiches äußeres Ereignis definiert wird, kann zu einem Trauma werden, wenn es als „äußerste Bedrohung“ (Huber, 2003, S. 39) gewertet wird. Diese sogenannte Annihilationsdrohung (annihilate, engl.: vernichten, zerstören, ausrotten) führt zu körperlichen Reaktionen, die die erlebende Person kaum mehr bewusst beeinflussen kann. Im schlimmsten Fall kommt es bei den Polizeibeamten zu dem Eindruck, dass „nichts mehr geht und alles aus“ sei. Der Terminus „Traumatischer Stress“ kann in der Polizeiarbeit zum besseren Verständnis auch mit dem Begriff Hochstress definiert werden. Traumatische Erlebnisse können zu akuten Stressbelastungen, Posttraumatischen Störungen und in der Konsequenz auch zum Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS, postraumatic