Sophia und Johann standen wie versteinert und sprachlos da. Sogar Sophia brachte kein Wort hervor. Nach circa fünf gefühlten Schrecksekunden spurtete Johann endlich los und verfolgte die Diebe. Und ich, ich tat es ihm gleich. Aber schon nach kurzer Zeit musste Johann die Verfolgung aufgeben. Wir waren den Dieben erst die Straße, auf der Sophia wohnte, runter hinterhergelaufen und hatten sie durch den Park am Ende der Straße weiterverfolgt, als Johann die Luft ausging. So viel zum Thema: Sportstudium. Vielleicht hatte er zu viel Mathematik studiert. Auf jeden Fall war Fitness etwas anderes als das, was er gerade zum Besten gab.
Ich selbst verfolgte die Rucksackdiebe noch durch die Fußgängerzone bis zu riesigen Wohnblöcken am anderen Ende der Stadt. Das war nicht so schwierig, denn die Diebe hatten ihr Tempo deutlich verringert, nachdem sie festgestellt hatten, dass kein Mensch sie mehr verfolgte. Mit mir als Verfolger hatten sie wohl nicht gerechnet und mich folglich auch nicht registriert. Sie sollten später noch sehen und spüren, dass man mit mir immer zu rechnen hat. Das war mir zu diesem Zeitpunkt jedoch selbst nicht klar. Dabei ist Bescheidenheit nicht meine größte Tugend.
Vor den riesigen Wohnblöcken verlor ich sie aus meinen Katzenaugen. Trotz umsichtiger Suche fand ich keine Spur mehr von den Dieben, ihren Fahrrädern und dem Rucksack, so dass ich schweren Katzenherzens die Verfolgung aufgab. Außerdem gab es sicher viel Schlimmeres als einen gestohlenen Rucksack.
Mit viel Mühe fand ich den Weg zurück in mein Revier. Ich brauchte eine längere Zeit, bis ich meine mir vertrauten Gärten und Straßen wiederfand. Noch nie in meinem bisherigen Katzenleben hatte ich mich so weit von meinem Zuhause, meinem Quartier, entfernt. Ich war überglücklich, als ich das erste mir bekannte Hundegebell vernahm: Der Hund der Nachbarin, die mich während Sophias Urlaub vom täglichen Zeitablauf her so unregelmäßig gefüttert hatte, hatte mich wohl schon von weitem gerochen. Ich stellte mir sogleich die Frage, ob ich ihn noch ein wenig anspornen sollte, indem ich das geschlossene Eingangstor, das die Einfahrt seiner Eigentümer von der Straße abtrennte, hoheitlich abschritt. Hunde reagieren nämlich total auf solche Anreize. Gnädig entschied ich mich dann aber dagegen. Ich wollte lieber zu Sophia und Johann, um zu sehen, wie es ihnen nach diesem unverschämten Überfall ging.
Vor der Haustür stand niemand mehr. Schade. Sie hätten ja wohl auf meine Rückkehr warten können. Ich war irgendwie enttäuscht, fast beleidigt, obschon mir bewusst war, dass ich eine längere Zeit unterwegs gewesen war. Vielleicht bin ich manchmal wirklich ein wenig eigen, wie die Laila-Frau letztens zu ihrem Mann sagte. Sollte ich einmal Zeit haben, würde ich eventuell darüber nachdenken, reflektieren, wie die Menschen zu sagen pflegen.
Ich lief um das Haus herum in Richtung Terrasse und vernahm auch schon die Stimme Sophias. Meine Enttäuschung war augenblicklich wie weggeblasen. Sophia und Johann waren in meinem Esszimmer. Hätte ich mir denken können und nicht direkt beleidigte Leberwurst mimen müssen. Großkatze sei Dank hatte dies niemand mitbekommen.
Sophias Familie packt nach dem Sommerurlaub die Koffer stets auf der Terrasse aus. Entsprechend natürlich auch Sophia. „So bleibt die Wohnung aufgeräumt“, hörte ich Sophias Mutter in Gedanken sagen. Natürlich nur in meinen Gedanken. Die Eltern waren ja noch unterwegs.
„Die werden sich schwarz ärgern, wenn sie nur Steine in deinem Rucksack finden“, lachte Sophia gerade aus vollem Herzen. Ich liebe dieses Lachen.
„Lach nicht, der Rucksack war ganz schön teuer und die Steine hatten sicher auch ihren Wert“, jammerte Johann. Ob es gespieltes oder echtes Jammern war, konnte ich nicht heraushören. Ganz gleichgültig war ihm die Sache aber bestimmt nicht. Sonst hätte er die Diebe sicherlich nicht verfolgt.
„So teuer war der Rucksack ja auch wieder nicht. Den hattest du doch für nur 15 Euro im Internet ersteigert“, tröstete Sophia Johann. „Und die Steine sind eh nur Staubfänger. Ich wollte die auf keinen Fall bei mir rumstehen haben.“
„Du nicht, aber ich. Du bist leider ja auch nicht an Geschichte interessiert.“
„Bin ich wohl, aber nicht an geklauten Scherben.“
Mittlerweile hatte ich mein Esszimmer erreicht.
„Da bist du ja, Minou“, strahlte mich Sophia an, als ich auf die Terrasse sprang. Und zu Johann gewandt: „Wir sollten die Polizei anrufen und den Diebstahl melden, auch wenn es sich nicht um großartige Werte handelt. Dass ich jetzt erst daran denke, wo bereits so viel Zeit verstrichen ist, ist ärgerlich.“
„Sonst ist aber alles ok?“ Johann war leicht verstimmt.
Sophia schaute ihn fragend an. „Häh? Wer beklagt denn die ganze Zeit den riesigen Verlust? Du oder ich?“, stellte Sophia leicht gereizt klar.
„Was soll ich denn sagen, was sich in meinem Rucksack befand? Gestohlene Steine? Und glaubst du vielleicht, die Polizei hätte nichts anderes zu tun, als sich direkt hinter Rucksackdiebe zu klemmen?“
„Meinst du, dass es unsere Polizei interessiert, ob es sich um gestohlene Steine handelt? Meinst du, die würde dich hier in Deutschland dafür bestrafen?“ Meine Sophia war zunehmend nachdenklich geworden. Ich hörte es deutlich an ihrer Stimme. „Ich schaue gleich mal im Internet, ob ich was dazu finde.“
Mit diesen Worten zog sie am Reißverschluss einer Außentasche ihres Rucksackes. Großkatze sei Dank hatte sie den nicht wie Johann mitten auf dem Bürgersteig abgestellt, sondern neben sich an der Haustür, so dass er nicht leichte Beute für Diebe hatte werden können. Und überhaupt, Sophia ist ja so viel klüger als ihr Johann. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Wie kann katze nur einen Rucksack unbeobachtet auf das Trottoir stellen, selbst wenn die Haustür nur fünf Meter entfernt ist? Es weiß doch schließlich jeder, dass die Welt immer schlechter wird. Das sagt auf alle Fälle der Nachbar von gegenüber, und zwar der, der neben der Familie wohnt, die mich Laila nennt. Er hat eine Frau, die ebenfalls dieser Meinung ist. Die beiden sagen das bei jeder Gelegenheit und nicken unterstützend mit ihren weiß gelockten Köpfen. Vor allem dann, wenn die Schulkinder – am Ende der Straße ist eine riesige Schule – ihre leeren Zigarettenschachteln oder die Zigarettenkippen, zerquetschte Coladosen und zusammengeknüllte Chipstüten sowie Schokoladenpapier in ihren Vorgarten schmeißen. Manchmal werfen sie auch die Schulbrote, die sie nicht gegessen haben, einfach auf die Straße oder in besagten Vorgarten. Wenn es sich um Käse- oder Wurstbrote handelt, nehme ich mich mitunter gerne des Belags an. Bei Schokoladenaufstrich oder, noch schlimmer, Gurken und Tomaten eher nicht. Ja, es gibt tatsächlich Mütter, die die Brote ihrer Kinder mit irgendwelchem Grünzeug anreichern. Das sind in der Regel die besonders bemühten Mütter, die etwas für die Gesundheit ihrer Kinder tun wollen. Allerdings findet katze solche Brote, Großkatze sei Dank, relativ selten auf der Straße oder in den Vorgärten. Diese Mütter holen ihre Kinder nämlich in der Regel mit ihrem Auto von der Schule ab, so dass sie wenig Gelegenheit haben, sich auf dem Nachhauseweg ihrer nicht gegessenen Brote zu entledigen. Schokolade ist im Übrigen Gift für Katzen. Aber ich schweife wieder ab.
Und was zog Sophia aus der besagten Seitentasche? Ein Halsband, ein grellrotes Halsband. Igitt, igitt!! So etwas Hässliches hatte ich lange nicht gesehen.
„Schau dir dieses schöne Halsband einmal an, das habe ich dir aus der Türkei mitgebracht, kleine Minou.“
Kleine Minou! Dass ich nicht miaue! Ich bin eine große, kräftige, aber auf keinen Fall dicke und fette Katze. Stattlich bin ich, um es auf einen Nenner zu bringen. Und so ein hässliches rotes Band für mich. Was sollte das nur? Und wie um alles in der Welt konnte katze so etwas Geschmackloses als schön bezeichnen?
„In das Halsband ist ein Sensor eingelassen, so dass ich dich immer überall finden kann. Ganz egal, wo du auch bist.“ Stolz hielt sie das Band in die Höhe und hielt es dann vor ihren Hals.
„Oh Söphchen, dich kleidet das Band auch sehr gut. Hätte ich das gewusst, hätte ich auch eins für dich erstanden. Bei zwei Bändern hätte man richtig gut den Preis runterhandeln können. Ach, was sage ich? Mir wäre jeder Preis recht gewesen. Hauptsache, ich weiß jederzeit, wo du dich aufhältst“, alberte Johann rum. Dabei verdrehte er die Augen. Sein Blick sagte alles. In diesem