Fast zeitgleich war auch Sophias Familie nicht daheim, sondern machte Urlaub in den Bergen. Sie lieben das Bergwandern. Sophia selbst war mit Johann ebenfalls im Urlaub, und zwar für zwei Wochen. Urlaub dauert anscheinend in der Regel zwei Wochen.
Sophia liebt warme Länder und das Wasser. In den Bergen sei es ihr oft zu kalt, hat sie einmal zu einer Freundin gesagt. Und schwimmen könne sie da auch nicht. Aber das ist schon sehr lange her.
Während sich Sophia mit viel Streicheln, so, wie es sich meiner Meinung nach gehört, von mir verabschiedet hatte, waren die anderen einfach ohne ein Wort des Bedauerns und ohne Verabschiedung verschwunden. Daran ist katze als Katze jedoch gewöhnt.
Sophia hatte mir sogar erzählt, wohin sie mit Johann verreist, nämlich in die Türkei nach Istanbul. Ferner war ein Badeurlaub im Süden der Türkei vorgesehen. Den Namen des Ortes habe ich vergessen. In der Nähe sollten alte bzw. antike Städte liegen, die Johann besonders liebt. Teilweise sogar unter Wasser, also versunkene Städte. Das wäre absolut nichts für mich. Ich bin einfach kein Stadtmensch. Und dann noch Städte unter Wasser, nein, nichts für mich.
Johann ist ziemlich neu in der Familie. Er gefällt mir, weil er mich auch oft streichelt. Sophia hat ihn anscheinend an der Universität kennen gelernt. Wie ich darauf komme? Seit sie studiert, geht Johann bei ihrer Familie ein und aus. Er studiert auch Mathematik, aber kein Französisch. Stattdessen ist er offenbar sehr sportlich und studiert noch Sport. Er will wie Sophia Lehrer werden, d.h. Sophia will natürlich Lehrerin werden. Männer werden Lehrer, Frauen Lehrerin. So ist das bei den Menschen. Was katze nicht alles hört, wenn katze durch das Revier streicht oder sich in seinem Kommunikatzionszentrum ausruht. Ja, ich kann mit Verlaub sagen, dass ich die meisten Eckdaten der Menschen meines Reviers kenne.
Sophias Mutter mag Johann. Als ich unter dem Küchenfenster saß, habe ich gehört, wie sie das zu Sophia sagte. Ob ihr Vater ihn auch mag, weiß ich nicht so richtig. „Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht umgekehrt“, sagte der nämlich, als seine Frau fragte: „Na, wie gefällt dir denn dein Schwiegersohn in spe?“ Ich kann die Antwort schlecht deuten. Die Menschen reden manchmal einfach in Rätseln; kryptisch, nennt man das auf Mensch.
Sophia war wegen der Türkeireise ein wenig traurig, wie sie mir versicherte. Sie machte sich Sorgen um meine Verpflegung. Kein anderer machte sich solche Gedanken. Alle dachten sicher, ich sei versorgt, weil ja die Familie, für die ich Laila bin, zu Hause war. Die verreisen immer erst im Herbst. Da müssen sie nämlich nicht die Pflanzen in ihrem schönen Garten gießen. Außerdem sei es dann in den Ferienorten ruhiger, hörte ich die alte Frau zu ihren Nachbarn sagen.
Was ich als besonders kränkend empfand, war ein Gespräch zwischen der Familie von Sophia und der Familie, die mich Katze nennt, besser gesagt, zwischen den Frauen der Familien. Sophias Mutter und die Frau wünschten sich gegenseitig einen schönen Urlaub und gute Erholung und meinten zum Schluss doch tatsächlich, es sei gut, dass ich jetzt mal weniger zu essen bekäme. Ich sei in der letzten Zeit richtig dick und fett geworden. Wie kann man so was nur sagen, wenn die Betroffene gerade vorbeistolziert. Einfach herzlos und – ich benutze das Wort nur selten und schon gar nicht für eine meiner Familien, hier war es jedoch das einzig richtige Wort?– a s o z i a l. Im Übrigen ist das Unsinn. Ich bin nicht dick und fett, sondern einfach nur eine stattliche Katze.
Nicht so Sophia. Sie hatte ausreichend Aluschälchen bei einer Nachbarin deponiert und diese instruiert, mir jeden Abend ein Schälchen in mein Speisezimmer – klar, dass das die Terrasse meiner Lieblingsfamilie ist? – zu stellen. Letzteres war insofern wichtig, als ich auf der Terrasse der Nachbarin nicht in Ruhe essen kann. Diese hat nämlich einen Hund, der es auf mich abgesehen hat. Daran bin ich nicht ganz unschuldig, wie ich bereits dargelegt habe. Ich muss jedoch gestehen, dass es mir immer wieder ein großes Vergnügen bereitet, diesen Hund bis aufs Blut zu reizen. Natürlich die anderen Hunde in der Nachbarschaft ebenfalls. Dieser hat es mir aber vor allen anderen angetan, weil er besonders laut und wütend bellen kann. Außerdem ist er leichter erregbar als jeder andere Hund im Revier. Katze kann auch sagen, dass der Hund immens schnell ausrastet. Und dann die Reaktion der Nachbarn! Einfach katzlich. Er bekommt immer sein Fett ab.
Die besagte Nachbarin passte in der Abwesenheit von Sophias Eltern auch auf das Haus auf. Sie goss die Blumen, kümmerte sich um die Post und lüftete ab und zu die Wohnung. Es war also für sie kaum ein Mehraufwand, wenn sie mir mein Futter in mein Esszimmer stellte. Diese Nachbarin machte das in diesem Urlaub auch nur, weil Sophias Tante, die ansonsten immer das Haus hütet, selbst im Urlaub war. Sie wohnt im Übrigen mit ihrer Familie neben der Nachbarin mit dem besagten Hund. Sie hat auch einen Hund, aber der gerät nicht so schnell außer Kontrolle, was mir gar nicht so gefällt. Katze muss schon sämtliche Register ziehen, um ihn aus der Reserve zu locken.
So war die Urlaubszeit nicht ganz so karg, aber das Streicheln fehlte einfach. Die Aushilfe dachte nicht im Traum daran, mich ab und an zu streicheln. Sie hatte nur ihren Hund im Kopf. Den kraulte sie oft hinter den Ohren, wenn sie in ihrem Liegestuhl lag und sich sonnte, mich nie. Ich war aber in der Regel auch gar nicht auf der Terrasse, wenn sie das Futter brachte, so dass sie mich nicht wirklich streicheln konnte, wenn ich ehrlich bin. Sie kam offensichtlich dann, wenn es ihr gerade einfiel, mal früh, mal spät, mal morgens, mal mittags, mal abends. Da steckte kein Zeitplan hinter, keine Struktur. Schrecklich. Ich musste stets aufpassen und mich in der Nähe meines Speisezimmers aufhalten, denn leicht hätte eine andere Katze, die zufällig mein Revier kreuzte, den gedeckten Tisch als Einladung auffassen können. Das Ende der Geschichte hätte durchaus ein Revierkampf sein können, worauf ich absolut keine Lust hatte.
Allerdings hatte ich das Gefühl, dass die beiden alten Leutchen mir bewusst mehr Essensreste zuschusterten als sonst. Einmal hatte der alte Mann sogar versucht, mich zu streicheln. Er hatte sich mühsam zu mir runtergebeugt und mir plötzlich in Augenhöhe in meine Augen geschaut. Ich war total perplex, als er mir unerwartet so nah kam, dass mir vor Schreck die Krallen kamen. Das geschah ganz unbeabsichtigt. Er hatte aber auch einen derart starren Blick, ein wenig zum Fürchten. Meine, ich betone nochmals, unbeabsichtigte Reaktion war peinlich und total dumm und überflüssig gewesen. Der alte Mann war augenblicklich zurückgezuckt. Das war dann auch leider schon das Ende einer aufkeimenden, näheren Beziehung. Ich bedaure meine Reaktion heute immer noch.
„Pass auf, sie ist etwas eigen“, hatte seine Frau noch gerufen, obschon ihr Mann sich schon vor mir in Sicherheit gebracht hatte, was natürlich nicht notwendig war. Wer beißt schon seinem Wirt in die Hand oder tut ihm Ähnliches an? Seine Antwort „Blödes Katzenvieh“ war allerdings gewöhnungsbedürftig. So ging es weiß Großkatze gar nicht. So bösartig redend hatte ich ihn bisher nicht erlebt. Ich hatte aber meistens auch nichts mit ihm zu tun, weil meine Versorgung in den Aufgabenbereich der Frau fiel. Menschen sprechen in diesem Zusammenhang von tradierten Rollen.
Nichtsdestotrotz erhielt ich weiterhin meine Mahlzeit und, wie bereits angedeutet, auch etwas mehr als außerhalb der Urlaubszeit meiner anderen Versorger. Es fehlte jedoch etwas und ich war nicht vollen Katzenherzens glücklich. Ich sehnte mich nach Sophia und ihrem Freund und auch ein wenig nach dem Mann, der mich einfach nur Katze nennt, weil mir deren Streicheleinheiten fehlten.
Großkatze sei Dank ist es meistens so, dass etwas, was ich mir so richtig von ganzem Katzenherzen her wünsche, auch in Erfüllung geht. Es dauert manchmal nur seine Zeit. Außerdem hatte Sophia mir bei der Verabschiedung zugeflüstert, sie sei bald wieder da und würde sich auf mich freuen. Auf Sophia war stets Verlass.
Sophia kehrt heim
Etwa zwei Wochen nach Sophias liebevoller Verabschiedung hörte ich am späten Nachmittag einen mir sehr bekannten Schritt. Es war zwar nicht das vertraute Klappern von Absätzen zu hören, aber der Rhythmus war mir sehr wohl bekannt und führte dazu, dass mein Herz einen Purzelbaum schlug, wie die Menschen so bei dem Gefühl sagen, das mich überkam.
Ich raste mit fliegenden Pfoten von der Terrasse, meinem Esszimmer, in dem ich mich gerade zu einem Imbiss aufhielt, zur Haustür des Hauses, in dem Sophia mit ihren Eltern wohnt. Zu meiner größten Katzenfreude entdeckte ich tatsächlich Sophia, die im gleichen Moment auch „Minou, da