Der Bürg mit dem Hundehalsband. Helmuth Santler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmuth Santler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843500944
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eine Chinesin beigebracht: Es bereitete die Geschmacksknospen ideal für die nun folgende Aromaexplosion vor.

      Schließlich konnte ich mich nicht länger zurückhalten und spießte eines der Hühnerstücke in der dunkelgelben, cremigen Soße auf. Oh Es im Himmel! Dieser Biss! Diese Konsistenz! Dieses Feeling! Und über allem: diese Soße! Im Hedon machten sie sie mit Butterschmalz, Kokosmilch und etwas Erdnusspaste, allesamt seit den Cholesterin-Aufständen streng verbotene Substanzen. (Nicht ganz korrekt: VegFood®-Kokosmilch wurde kontingentiert abgegeben, aber irgendwie schafften es die Fuzzis des Multi, auch ihrer Kokosmilch jeglichen Charakter auszutreiben.)

      Eine Stunde lang schwebte ich auf Wolke sieben. Sollte ich noch eins draufsetzen? Ein Stückchen von der legendären Baklava des Hedon, die sie stolz als „100 % illegal“ anpriesen? Ein Blick in die Brieftasche nahm mir die Entscheidung ab: konnte ich mir nicht leisten. Von einer Zigarette als Abschluss eines Mahls träumte ich schon gar nicht mehr. Selbst hier, im schönsten und größten Tempel der Indie-Bewegung, gönnte sich so gut wie niemand mehr dieses Vergnügen. Nach dem Erlass des globalen, allumfassenden, jederzeitigen und permanenten Rauchverbots, mit dem die Gesundheitsfaschistoas(22) sich endgültig als führende Weltmacht etablierten, war der totale Krieg gegen die unerwünschten Drogen ausgerufen worden. Ein Gramm Tabak kostete mittlerweile mehr als ein fürstliches Abendessen, wie ich es gerade zu mir genommen hatte. Seufzend wandte ich den Blick wieder von der exklusiven Raucher-Lounge direkt unter der Decke des Hedon ab, wo sich ein Paar einen der Glimmstängel teilte, und versuchte stattdessen mit einigem Erfolg, den Currygeschmack noch einmal wachzurufen.

      Zu den Vorzügen des Hedon gehörte auch, dass es hier noch wildes Wasser zu trinken gab. Sogar kostenlos, wenn man etwas konsumierte. Ich füllte mir beim Hinausgehen eine Flasche davon ab, denn aus den Leitungen der Haushalte floss ausschließlich ©Wate® – garantiert normiert. In diesem Fall bedeutete das geklärt, gereinigt, keimfrei gemacht, destilliert, mit Spurenelementen angereichert, chloriert, jodiert und fluoriert. Wir tranken immer dasselbe Wasser, unendlich oft wiederaufbereitet. Den Aufwand ließ man sich teuer bezahlen. Zuerst hatte man die Wasserrechte privatisiert, aber weil den Betreibern die Gewinnmargen immer noch viel zu gering waren, ersann man eine – selbstverständlich patentrechtlich geschützte – Methode der Wasseraufbereitung. An sich ging es nur ums Geld, aber politisch wurde die Sache mit dem aufkommenden Slogan „garantiert normiert“ an Mensch gebracht. Oder vielmehr an die Gesundheitsfaschistoas, die sich begeistert auf die „Beseitigung des letzten Risikofaktors“ stürzten. Es dauerte schon ein paar Jahre, aber schlussendlich hatte man eine Mehrheit da, wo man sie haben wollte: in Angst vor dem Wasserhahn. Das „wilde Wasser“ geriet zunehmend in Verruf, Monat für Monat wurde es für ein neues Gesundheitsproblem „nachweislich“ verantwortlich gemacht. Mundschutz beim Duschen wurde obligat, ©Wate® kam, erst noch in Flaschen, auf den Markt. Dann wurde die gesamte Wasserversorgung auf das neue Produkt umgestellt und das große Abcashen konnte beginnen. Es war der Traum jed Drogendealings: Alle waren zum ausschließlichen Konsum seinihres Produktes gezwungen – per Verordnung. Natürlich waren die Capoas der Gesundheitsfaschistoas im Geheimen an den ©Wate®-Gewinnen beteiligt, die mit der Einführung der Stimmungs-Wässer in verschiedenfarbigen Flaschen noch einmal explodierten, aber was nützte einem dieses Wissen schon? Die Entwicklung hatte gegen Ende des 20. Jahrhunderts angefangen: Zug um Zug war alles reguliert worden. Für mehr Sicherheit und Gesundheit nahm die von den Marionetten-Medien in Angst gehaltene Bevölkerung in Kauf, dass ihre individuellen Entscheidungsspielräume immer kleiner wurden. Das eigentliche Ziel, die totale Kontrolle aller Lebensbereiche im Interesse der Wirtschaft, wurde erst offenbar, als längst eine Mehrheit die tausenden Gesundheits- und Verhaltensvorschriften unhinterfragt verinnerlicht hatte.

      „Bürg Santler!“, meldete sich da meine Kom-Einheit. „Es ist 8.30 Uhr. Zeit für Tätigkeit. Außerordentlicher Tagesordnungspunkt: Erklärung für das gestrige Eintreffen nach der Norm-Heimkehrzeit 22.00 Uhr.“

      Ich setzte meinen Helm auf, legte die Prallschutzkleidung an und schnallte die Reflektoren um; das Radfahren zur Arbeit gehörte zu den wenigen Vorschriften, die ich gerne befolgte, auch wenn ich auf das Sicherheits-Brimborium gut hätte verzichten können. Auf dem Weg würde mir schon eine Ausrede einfallen, auch wenn ich alle Credits für nächtliche Aktivitäten in diesem Monat schon verbraucht hatte. Für alle Fälle nahm ich mein wildes Wasser mit, das ich in eine der blauen ©Wate®-Activity-Flaschen umgefüllt hatte. Zum Bestechen des IT-Typen, der an den Personalprotokollen saß, war das weit besser als Geld.

      Erschienen in der Zeitschrift „Wege“, Frühjahr 2012

      Das größte Abenteuer überhaupt

      Kürzlich wurde in Spanien der Nudismus gesetzlich erlaubt. Was ein Mann in Pamplona zum Anlass nahm, um sein Recht zu kämpfen, nackt durch die Stadt laufen zu dürfen. Er meinte, er sei zuhause unbekleidet und nütze die textilfreien Stunden im Freibad der Stadt, deshalb sehe er nicht ein, wozu er sich für die paar hundert Meter zwischen seinem Domizil und dem örtlichen Pool etwas überziehen müsse. Das Gericht stimmte ihm zu, weshalb der Mittvierziger seit einiger Zeit zweimal wöchentlich durch Pamplona schwingt, ausgerüstet mit dem von Reinhard Fendrich bekannt gemachten Dreiteiler (zwei Schlapfen und eine Sonnenbrille) und dem Gerichtsbescheid.

       Das nackte Überleben ...

      … ist in unserer Überflussgesellschaft zum Spiel geworden. Sich das Recht zu erstreiten, sich völlig hüllenlos den Elementen (und der eher konservativen Bevölkerung Pamplonas) präsentieren zu dürfen, ist zwar witzig, aber auch nur aus der Sicht einer Gesellschaft, der es an rein gar nichts wirklich mangelt. Was aber ist mit jenen, die ihr anscheinend doch nicht so kostbares Leben absichtlich in größte Gefahr bringen? Menschen erklimmen Felswände, die noch nie jemand bezwungen hat, und falls doch auf einer noch schwierigeren, gefährlicheren Route. Ist das auch erledigt, lässt man Seile und Haken weg. Oder man wartet auf den Winter oder ersteigt gleich zugefrorene Wasserfälle. Trotz allem gehen den Extrembergsteigern schön langsam die Optionen aus. Hier einige Vorschläge für die Ärmsten, denen nichts mehr einfällt, wie sie irgendetwas als Allererste machen könnten: Erstbesteigung des Großglockner in Flip-Flops oder, noch besser, High-Heels; Nacktmarathon, -triathlon oder -ultramehrkampf; rückwärts den Berg raufgehen oder auf allen Vieren die Sahara durchkriechen.

       Willkommen – Bienvenue – Welcome – im Kabarett

      Das Überleben – eine Frage der sensationellsten Inszenierung. Ich gestehe, dass ich auch zu jenen gehöre, die angesichts von Saltos mit Motorrad, Sprüngen über 23 Autobusse oder Mountainbike-Abfahrten mit 162 Stundenkilometern erst einmal interessiert hinsehen und sich der staunenden Bewunderung nicht entziehen können. Panem et circenses, Brot und Spiele, hat schon in der römischen Antike bestens funktioniert, nur war man damals ehrlicher als heute: Die Gladiatoren wurden zum möglichst publikumswirksamen Sterben ausgebildet, ohne Wenn und Aber. Wenn sich heute ein Skifahrer ins Koma stürzt oder gleich das Genick bricht, geht ein wohlig-gruseliger Schauer des Mitgefühls durch die Medien, es wird über Sicherheitsmaßnahmen diskutiert und die Fahrervertreter dürfen auch mal wieder zu Wort kommen. Dann wird, im Bewusstsein alles ethisch und politisch korrekt abgehandelt zu haben, zur Tagesordnung übergegangen. In Spanien ist man da schon weiter: dort laufen im Fernsehen als Lückenfüller Aufnahmen von Skiunfällen und sich überschlagenden Stieren bzw. Toreros in Serie, mit Dick-und-Doof-Sound auf lustig getrimmt. Fünf Knochenbrüche, drei Sehnenrisse und eine ausgekugelte Schulter pro Minute: zynisch und geschmacklos. Aber immerhin ehrlich: Andere riskieren ihr Leben und ihre Gesundheit, damit die Masse auf der anderen Seite ihre Hetz hat.

       Im Fernsehsessel des Lebens