Beispiele:
Beim Betrieb eines Kernkraftwerks kann trotz aller Sicherheitsmaßnahmen eine unkontrollierte Kettenreaktion nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die Anhaltspunkte dafür, dass in nächster Zeit mit einem GAU zu rechnen ist, sind jedoch – hoffentlich – zu gering, um damit für die in diesem Fall entstehenden Schadensersatzverpflichtungen die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten zu begründen.
Für die Verpflichtung eines Herstellers zum Ausgleich der Schäden, die aus der Nutzung seiner Produkte entstehen, kann nur dann eine Rückstellung gebildet werden, wenn spezifiziert werden kann, in welchen Fällen mit einer Inanspruchnahme aus der Produkthaftung zu rechnen ist und welche Schäden voraussichtlich auszugleichen sind. Denkbare, aber nicht anhand von nachprüfbaren Argumenten zu konkretisierende Schäden dürfen nicht berücksichtigt werden.
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Die hinter dem Grundsatz der Bewertungsvorsicht stehenden Überlegungen lassen sich anhand eines theoretischen Idealfalls verdeutlichen: Bei der Bestimmung der Rückstellungshöhe für ein bestimmtes Einzelrisiko (zB Schadensersatzverpflichtung), bei dem für die verschiedenen möglicherweise eintretenden Belastungen jeweils Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, ist ein Wert zwischen dem Erwartungswert und dem maximalen gerade noch, wenn auch mit minimaler Wahrscheinlichkeit, denkbaren Betrag zu wählen. Als angemessen gilt der Wert, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird. In Abhängigkeit von der subjektiven Einstellung der einzelnen Autoren werden in der Literatur Grenzwerte zwischen 80 und 95% genannt.[1] In den praktisch bedeutsamen Fällen kann aber regelmäßig keine Wahrscheinlichkeitsverteilung angegeben werden. Nach dem Grundsatz der Bewertungsvorsicht gilt ein Wert dann als angemessen, wenn – abgesehen vom Eintreten ungewöhnlicher Umstände – angenommen werden kann, dass keine höhere Belastung des Jahresergebnisses eintritt. In Verbindung mit dem Grundsatz der Richtigkeit erfordert der Grundsatz der Bewertungsvorsicht vom Bilanzierenden, dass er die von ihm getroffene Entscheidung plausibel begründet, dh er muss für die Höhe der entstandenen Wertminderungen bzw möglicherweise entstehenden Belastungen nachprüfbare Argumente nennen können. Der Bilanzierende muss alle wertbeeinflussenden Tatbestände in seine Betrachtung einbeziehen. Möglicherweise eingetretene Minderungen des Reinvermögens, für die keine nachprüfbaren Begründungen angegeben werden können, dürfen nicht berücksichtigt werden. Durch das Zusammenwirken des Vorsichtsprinzips mit dem Objektivierungsgedanken soll eine willkürliche Unterbewertung von Aktiva bzw eine nicht begründbare Überbewertung von Passiva vermieden werden.
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Das Nebeneinander des Grundsatzes der Bewertungsvorsicht sowie des Grundsatzes einer objektivierten Gewinnermittlung führt dazu, dass bei der Bewertung von mehreren gleichartigen Sachverhalten eine Annäherung an den Erwartungswert vorgenommen werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass eine Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt werden kann und dass ein statistischer Risikoausgleich möglich ist. Das typische Beispiel für eine Bewertung zum Erwartungswert bilden Pensionsrückstellungen für Versorgungszusagen.
Beim Grundsatz der Bewertungsvorsicht tritt also ein Zielkonflikt zwischen dem Grundsatz der Richtigkeit und dem Vorsichtsprinzip auf. Aufgrund des Grundsatzes der Tatbestandsmäßigkeit und Tatbestandsbestimmtheit sind für die steuerliche Gewinnermittlung an den Nachweis strengere Anforderungen zu stellen als in der Handelsbilanz. Der Objektivierungsgedanke führt im Vergleich zur Handelsbilanz zu einer stärkeren Betonung des Grundsatzes der Richtigkeit und damit gleichzeitig zu einem Zurückdrängen des Grundsatzes der Bewertungsvorsicht.
Anmerkungen
Vgl Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., Stuttgart 1995, § 252 HGB, Tz. 68; Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, Bonn (Loseblattausgabe), § 252 HGB, Rz. 144; Pittroff/Schmidt/Siegel, Allgemeine Bewertungsgrundsätze, in: Böcking/Castan/Heymann ua (Hrsg.), Beckʼsches Handbuch der Rechnungslegung, München (Loseblattausgabe), B 161, Rz. 129.
Erster Teil Steuerliche Gewinnermittlung › Zweiter Abschnitt Bilanzierung und Bewertung der aktiven Wirtschaftsgüter in der Steuerbilanz
Zweiter Abschnitt Bilanzierung und Bewertung der aktiven Wirtschaftsgüter in der Steuerbilanz
Erster Teil Steuerliche Gewinnermittlung › Zweiter Abschnitt Bilanzierung und Bewertung der aktiven Wirtschaftsgüter in der Steuerbilanz › A. Bilanzierung von Wirtschaftsgütern
A. Bilanzierung von Wirtschaftsgütern
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Aus der in Kapitel I. vorgestellten Bilanzierungskonzeption ergibt sich, dass bei der Entscheidung darüber, welche Vermögenswerte auf der Aktivseite der Steuerbilanz enthalten sind, zunächst der für die steuerrechtliche Gewinnermittlung grundlegende Begriff „Wirtschaftsgut“ zu definieren und gegenüber dem handelsrechtlichen Begriff „Vermögensgegenstand“ abzugrenzen ist (abstrakte Bilanzierungsfähigkeit, Kapitel II.). Im Zusammenhang mit der konkreten Bilanzierungsfähigkeit (Kapitel III.) sind im ersten Schritt die gesetzlichen Vorschriften zu untersuchen, die für die betreffende Bilanzposition gelten. Dabei ist danach zu unterscheiden, ob bzw unter welchen Voraussetzungen eine Ansatzpflicht, ein Ansatzwahlrecht oder ein Ansatzverbot besteht. Im zweiten Schritt sind die persönliche und sachliche Zurechnung zu prüfen. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu beantworten, ob das Wirtschaftsgut in der Steuerbilanz (sachliche Zurechnung zum Betriebsvermögen) des Bilanzierenden (persönliche Zurechnung zum Steuerpflichtigen) anzusetzen ist.
I. Bilanzierungskonzeption
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(1) Überblick: Die Entscheidung, was in einer Bilanz auf der Aktiv- oder Passivseite anzusetzen ist, hängt vom Zweck der Rechnungslegung ab. In der Steuerbilanz erfolgt die Gewinnermittlung durch einen Betriebsvermögensvergleich. Da im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung keine Gesamtbewertung vorgenommen wird, sondern die Steuerbilanz auf einem Einzelvermögensvergleich beruht, ist abzugrenzen, was unter einem (einzelnen) Wirtschaftsgut zu verstehen ist.
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Wirtschaftsgüter unterteilen sich in aktive Wirtschaftsgüter (Vermögenswerte) und passive Wirtschaftsgüter (Verpflichtungen: Verbindlichkeiten und Rückstellungen). Beide Begriffe sind nicht gesetzlich definiert. Dies gilt auch für die vergleichbaren handelsrechtlichen Begriffe „Vermögensgegenstand“ und „bilanzielle Schuld“. Als Ausgangspunkt für die Definition dieser Begriffe lassen sich zwei Fragen formulieren:
– | Ist ein wirtschaftlicher Vorteil so weit konkretisiert, dass er als Aktivposten (insbesondere als aktives Wirtschaftsgut bzw Vermögensgegenstand) anzusehen ist? |
– | Ist die in Zukunft anfallende Auszahlung so belastend, dass sie als Passivposten (insbesondere als passives Wirtschaftsgut bzw bilanzielle Schuld) zu betrachten ist? |
Bei der Analyse, ob ein wirtschaftlicher Sachverhalt zu einem Ansatz dem Grunde nach führt, ist wie folgt vorzugehen: Nach der Überprüfung der abstrakten Bilanzierungsfähigkeit