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Im Gegensatz zur handelsrechtlichen Rechnungslegung sind das Imparitätsprinzip und der dahinter stehende Kapitalerhaltungsgrundsatz für die Steuerbilanz nicht zwingend notwendig.[5] Während gesellschaftsrechtlich gezahlte Dividenden nicht zurückgefordert werden können, besteht für den Staat die Möglichkeit, über den Verlustrücktrag in der Vergangenheit eingenommene Steuern zu erstatten. Nach dieser Sichtweise ist nicht das für die Steuerbilanz bestehende Passivierungsverbot für Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften negativ zu beurteilen, vielmehr sind die außerplanmäßigen Abschreibungen bei Aktiva und die außerplanmäßigen Zuschreibungen bei Passiva der Fremdkörper. Wenn das Imparitätsprinzip in die Steuerbilanz nicht übernommen werden soll, muss dies sowohl für das Imparitätsprinzip dem Grunde nach (Drohverlustrückstellungen) als auch für das Imparitätsprinzip der Höhe nach (Niederstwert–, Höchstwertprinzip) gelten.
Ein zusätzliches Argument gegen die Notwendigkeit des Imparitätsprinzips ist, dass die Minderung der Einsatzfähigkeit eines Wirtschaftsguts aufgrund von außergewöhnlichen technischen oder wirtschaftlichen Abnutzungen nach dem Grundsatz der Abgrenzung von Aufwendungen der Zeit nach erfasst werden kann. Nach diesem zu den Periodisierungsgrundsätzen gehörenden Prinzip sind aperiodische Geschäftsvorgänge in der Periode zu verbuchen, in der sie eintreten. Der Teil der Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Wirtschaftsguts, der verbraucht wurde, kann nicht mehr zur Erzielung von Erträgen genutzt werden. Voraussetzung für eine Verrechnung von Wertminderungen nach dem Grundsatz der Abgrenzung von Aufwendungen der Zeit nach ist, dass sich aufgrund von außergewöhnlichen Umständen die Substanz eines Wirtschaftsguts verringert hat, dh der Wertverzehr muss tatsächlich eingetreten sein. Ist die Wertminderung sicher oder zumindest so gut wie sicher, kann sie nach dem Konzept der Reinvermögenszugangstheorie gewinnmindernd verrechnet werden. Insoweit besteht hinsichtlich des Zeitpunkts der steuerlichen Erfassung zwischen der Verbuchung von Erträgen nach dem Realisationsprinzip und der Verbuchung von Aufwendungen nach dem Grundsatz der Abgrenzung von Aufwendungen der Zeit nach Übereinstimmung. Diese ist aber nur dann gewährleistet, wenn es sich nicht um nur vorübergehende Wertminderungen handelt, die lediglich auf Preisschwankungen zurückzuführen sind. Derartige Wertminderungen könnten nur erfasst werden, wenn im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung generell auf das Konzept der Reinvermögenszuwachstheorie abgestellt werden würde.
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Die Aufhebung des Imparitätsprinzips im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung ist aber nur dann begründbar, wenn die Verlustverrechnung nicht eingeschränkt wird. Als Alternative zu einem uneingeschränkten Verlustrücktrag besteht die Möglichkeit, entstandene Verluste vorzutragen und bis zum Zeitpunkt ihrer Verrechnung zu verzinsen. Bei einem verzinslichen Verlustvortrag wird die zeitliche Verschiebung des Verlustvortrags durch eine Erhöhung der Steuererstattung um entsprechende Zinsen ausgeglichen.[6] Nicht sachgerecht ist es, das Imparitätsprinzip zurückzudrängen (Einführung eines Passivierungsverbots für Drohverlustrückstellungen nach § 5 Abs. 4a S. 1 EStG) und gleichzeitig die Verlustverrechnung (zB den Verlustabzug nach § 10d EStG) einzuschränken. Da der Gesetzgeber den Umfang der Verrechnung von Verlusten in den letzten Jahren mehrfach eingeschränkt hat, ist aus der vorstehenden Aussage ein Umkehrschluss zu ziehen: Bleibt es bei den zurzeit geltenden Einschränkungen der Verlustverrechnung, muss das Imparitätsprinzip für die Steuerbilanz sowohl dem Grunde nach als auch der Höhe nach gelten.
Anmerkungen
Zu dem Fall, dass am Abschlussstichtag mit dem Bauvorhaben bereits begonnen wurde, siehe den nachfolgenden Unterabschnitt (3), Rn. 128–131.
In diesem Kapitel werden die Grundzüge des Niederstwertprinzips vorgestellt. Zur konkreten gesetzlichen Umsetzung des Niederstwertprinzips (Abwertungsgebot, -wahlrecht oder -verbot) siehe Zweiter Abschnitt, Kapitel B.IV.2., Rn. 372–395.
Zu dem Fall, dass am Abschlussstichtag mit dem Bauvorhaben noch nicht begonnen wurde, siehe den vorangehenden Unterabschnitt (2), Rn. 125–127.
In diesem Kapitel werden die Grundzüge des Höchstwertprinzips vorgestellt. Zur konkreten gesetzlichen Umsetzung des Höchstwertprinzips (Aufwertungsgebot, -wahlrecht oder -verbot) siehe Dritter Abschnitt, Kapitel B.I., Rn. 503–507.
Siehe auch Schneider, DB 1995, S. 1421; Spengel, FR 2009, S. 106.
Vgl zB Schneider, Steuerlast und Steuerwirkung, München/Wien 2002, S. 288–289; Schreiber, Besteuerung der Unternehmen, 4. Aufl., Wiesbaden 2017, S. 735–743.
3. Grundsatz der Bewertungsvorsicht (Vorsichtsprinzip im engeren Sinne)
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Das Konzept einer vorsichtigen Gewinnermittlung kommt in erster Linie in dem Nebeneinander von Realisations- und Imparitätsprinzip zum Ausdruck. Ergänzend zu diesen speziellen Unterformen des Vorsichtsprinzips ist der Grundsatz der Bewertungsvorsicht als allgemeine Fassung des Vorsichtsprinzips zu beachten (Vorsichtsprinzip ieS).
Der Grundsatz der Bewertungsvorsicht bezieht sich insbesondere auf die Behandlung unsicherer Sachverhalte. Er besagt, dass in den Fällen, in denen die für die Bilanzierung und Bewertung benötigten Informationen nicht vollständig vorliegen, der Bilanzierende bei der Aufstellung seines Jahresabschlusses eher von einer pessimistischen Grundeinstellung ausgehen soll. Aus einer Bandbreite subjektiver Alternativvorstellungen sind tendenziell eher die ungünstigeren Entwicklungen heranzuziehen. Dies bedeutet, dass Aktiva eher niedriger anzusetzen und Passiva eher höher zu bewerten sind.
Beispiel:
Kurz vor dem Abschlussstichtag wird über das Vermögen eines Kunden das Insolvenzverfahren eröffnet. Informationen über die zu erwartende Insolvenzquote sind noch nicht verfügbar. Da in der weit überwiegenden Zahl der Insolvenzen die Quote für nicht bevorrechtigte Gläubiger nahezu null beträgt, entspricht es dem Grundsatz der Bewertungsvorsicht, die Forderung als uneinbringlich anzusehen und vollständig auszubuchen.
Der Grundsatz der Bewertungsvorsicht findet seine Grenze darin, dass kaum wahrscheinliche Extremsituationen nicht unterstellt werden dürfen. Eine derartige „Übervorsicht“