b) Richtlinienkonforme Auslegung und Anwendung der GRCh
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Das vom EuGH entwickelte Instrument der richtlinienkonformen Auslegung ist fester Bestandteil der Durchsetzungsmechanismen des europäischen Rechts. Danach sind auch unverändert gebliebene Vorschriften des nationalen Rechts „im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen“[245]. Dieses Gebot gilt unabhängig von der Umsetzung ab Inkrafttreten der Richtlinie[246] und betrifft insbes die Generalklauseln. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind alle Träger öffentlicher Gewalt zur Durchsetzung der Ziele einer Richtlinie verpflichtet. Diese Auslegung ist unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den das nationale Recht ihnen einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts vorzunehmen[247]. Grenzen findet die richtlinienkonforme Auslegung auf nationaler Ebene im eindeutig entgegenstehenden Wortlaut eines Gesetzes[248] und unionsrechtlich in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbes in den Grundsätzen von Rechtssicherheit und Rückwirkungsverbot[249]. Die richtlinienkonforme Auslegung führt aber auch zu einem Vorrang unionsrechtlicher Maßstäbe vor dem nationalen Verfassungsrecht (s. schon Rn 41 ff).
Zum einen wird durch Richtlinien auch der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet. Diese gilt für die Mitgliedstaaten bei der „Durchführung von Unionsrecht“; dazu gehört in jedem Fall[250] das richtliniengeprägte Verwaltungshandeln und damit fast das gesamte öffentliche Wirtschaftsrecht (zu den Konsequenzen für Informationsansprüche Rn 129 ff). Dies begrifft allerdings nicht nur die materiellen Grundrechte, sondern auch die Anforderungen an den effektiven Rechtsschutz. Insoweit wird auch Art. 19 Abs. 4 GG verdrängt durch Art. 47 GRCh, aber auch die „einfachrechtlichen“ Konkretisierungen in den Richtlinien, zB für das Telekommunikationsrecht in Art. 4 Abs. 1 S. 2 RahmenRL. Bereits die Entscheidung zum Verhältnis von effektivem Rechtsschutz und dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen hat bestätigt, dass der EuGH diesem Grundsatz herausragende Bedeutung zumisst[251]. Es überzeugte daher nicht, wenn BVerfG und BVerwG in diesem Zusammenhang die zu Art. 19 Abs. 4 GG entwickelten Maßstäbe anlegten[252]; dieser Ansatz ist aber durch die jüngste Rechtsprechung des BVerfG zum Vorrang des Unionsrechts (vgl oben Rn 42 f) wohl überholt[253]. Damit verdrängen jedenfalls im richtliniengeprägten öffentlichen Wirtschafts- und Umweltrecht die europäischen Anforderungen an ein faires (gerichtliches und behördliches) Verfahren die nationalen Standards[254]. Dies betrifft nicht nur Art. 47 GRCh (dazu schon Rn 40), sondern in besonderer Weise auch das Verwaltungsverfahren. Zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen der einzelnen Richtlinien tritt zunehmend das „Recht auf gute Verwaltung“ des Art. 41 GRCh (zu den angloamerikanischen Wurzeln schon Rn 18)[255].
3. Vereinbarkeit von Verordnungen und Richtlinien mit dem Primärrecht
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Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 AEUV) wird die Union nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätig (vgl ▸ Klausurenkurs Fall Nr 1). Davon zu unterscheiden ist die Frage nach dem Rangverhältnis. Ähnlich wie zwischen Verfassungs- und einfachem Recht ist auch im Unionsrecht der Grundsatz der Normhierarchie anerkannt. Das Primärrecht nimmt die oberste Rangstufe ein,[256] genießt also Vorrang vor dem sekundären Unionsrecht[257]. Nach der Rechtsprechung des EuGH[258] bildet es „Grundlage, Rahmen und Grenze“ der von den Unionsorganen erlassenen Rechtsakte. Insoweit kann auch Sekundärrecht gegen die Grundfreiheiten verstoßen.
Davon zu unterscheiden sind die Konsequenzen für die Prüfung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht. In der Literatur wird dem (spezielleren) Sekundärrecht Vorrang vor den Grundfreiheiten zugebilligt[259]. Praktische Anwendungsfälle sind zB die Garantie effektiven Rechtsschutzes in den Telekommunikationsrichtlinien (näher Rn 40). Teilweise wird dies damit begründet, es sei schon der Tatbestand der Grundfreiheiten nicht eröffnet, da die Verbürgungen der Grundfreiheiten durch die Richtlinien in konkrete, abgegrenzte Rechte und Pflichten ausformuliert und konturiert werden würden[260]. Der EuGH scheint zu differenzieren. In einigen Entscheidungen erachtet er den Anwendungsbereich der jeweiligen Grundfreiheit als eröffnet und berücksichtigt einschlägiges Sekundärrecht erst auf der Ebene der Rechtfertigung[261]. In anderen Fällen stellt er hingegen heraus, dass eine nationale Maßnahme, die den Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie gestattet wird, schon tatbestandlich nicht gegen die Grundfreiheiten verstößt[262]. Die Differenzierung orientiert sich am Regelungsgehalt der Richtlinie. Soweit sie auf Konkretisierung der Grundfreiheiten angelegt ist, entscheidet in erster Linie die Richtlinie und damit der Unionsgesetzgeber über die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheit. Dieses jucidial self restraint erklärt auch, dass der EuGH dann den Sachverhalt nicht zusätzlich am Primärrecht überprüft[263], sondern in einem „erst-recht-Schluss“ Einschränkungsmöglichkeiten einer Richtlinie auf nur vom Primärrecht geprägte Sachverhalte überträgt[264].
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Fall 7a (Rn 89):
Im Rahmen der Begründetheit ist zu unterstellen, dass die Anforderungen der VO eingehalten sind[265]. Nach Art. 36 Abs. 1 AEUV stehen die Bestimmungen des Art. 35 AEUV Beschränkungen nicht entgegen, die aus bestimmten Gründen, ua zum Schutze des gewerblichen und kommerziellen Eigentums, gerechtfertigt sind[266]. Dabei ist zu beachten, dass der EuGH bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung den Schwerpunkt auf die Erforderlichkeit legt und die Angemessenheit einer Maßnahme idR nicht gesondert prüft[267]. Erforderlich ist sie insbes deswegen, weil der Markt allein die Sicherstellung von Qualitätsstandards für bestimmte traditionelle Produkte nicht erreichen konnte. Hierfür hielt der EuGH die Herstellung im Ursprungsland für erforderlich. Er erstreckte dies sogar auf Abfüllen/Verpacken und Zubereiten, worin der GA einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gesehen hatte, weil solche Standards überall eingehalten werden könnten und jedenfalls eine entsprechende Kennzeichnung genüge[268]. Auf der Grundlage der GRCh legt der EuGH gegenüber Verordnungen strengere Maßstäbe an[269].
Fall 7b (Rn 89):
Würde sich die Regelung demgegenüber in einem delegierten Rechtsakt befinden, würde dies sowohl gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt des Art. 290 Abs. 1 wie gegen den grundrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalt des Art. 52 Abs.1 GRCh verstoßen.
§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen › IV. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechtlicher Schutz wirtschaftlicher Betätigung
IV. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechtlicher Schutz wirtschaftlicher Betätigung
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Fall 8:
a) |
Apotheker A betreibt in Mannheim die A-Apotheke. Die Apothekerkammer legte ihm zur Last, er habe seine Berufspflichten als Apotheker und die Berufsordnung durch unzulässige Werbung verletzt, indem er Verkaufsschütten und Werbetafeln aufgestellt und in der Nachbarschaft Werbezettel verteilt habe, mit denen er die Aufmerksamkeit der Kunden auf sein nicht apothekenpflichtiges Nebensortiment (Säuglingsnahrung, Körperpflegeartikel sowie Frucht- und Gemüsesäfte) richten wollte. Wegen dieser Vorfälle wurde er durch Urteil des Berufsgerichts für Heilberufe zu einer Geldbuße von 15 000 € verurteilt.
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