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Gerade weil die Kapitalverkehrsfreiheit auch im Verhältnis zu Drittstaaten gilt, ist in solchen Fällen die Abgrenzung von den anderen Grundfreiheiten von besonderer Bedeutung. Besondere Relevanz erhält diese bei der Tätigkeit von Banken aus Nicht-EU-Staaten. Obwohl Bankgeschäfte, insbes die Vergabe von Krediten, dem Art. 63 AEUV unterfallen (s. näher Rn 84), hat der EuGH seine „Schwerpunktformel“ (s. Rn 65) dahin gehend konkretisiert, dass die Dienstleistungsfreiheit nicht nur solche Tätigkeiten erfasst, die die Bank im Umfeld der eigentlichen Kapitaltransaktion erbringt (insbes die Vermittlungs- und Beratungstätigkeiten)[209], sondern auch die Kreditvergabe als solche. Damit konnte sich nach Ansicht des EuGH die Fidium Finanz AG aus der Schweiz, die über das Internet Konsumentenkredite insbes an Deutsche vergab, gegenüber dem Genehmigungserfordernis des deutschen KWG (s. dazu ausf Rn 546) nicht auf die Kapitalverkehrs-, aber als Bank aus einem Drittstaat eben auch nicht auf die Dienstleistungsfreiheit berufen[210]. Der EuGH bestimmt das Verhältnis abstrakt, dh unabhängig von der Frage, ob in einem konkreten Fall überhaupt beide Marktfreiheiten anwendbar sind.
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Auch im Verhältnis zur Niederlassungsfreiheit ließ der EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit vor allem im steuerrechtlichen Kontext zurücktreten[211]. Anders verhält es sich allerdings dann, wenn sich die nachteiligen Auswirkungen auf die Niederlassungsfreiheit als „unmittelbare Folge der … Hindernisse für den freien Kapitalverkehr, mit denen sie untrennbar verbunden sind“[212], darstellen. Daraus folgt im Fall 6 (Rn 48), dass die Vorschriften über golden shares und andere aktienrechtliche Vorschriften zugunsten der öffentlichen Hand nicht an der Niederlassungsfreiheit gemessen werden. Die Warenverkehrsfreiheit wird hinsichtlich der gesetzlichen Zahlungsmittel von der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit verdrängt, während Edelmetalle angesichts der geringen geldpolitischen Bedeutung unter Art. 34 AEUV subsumiert werden[213].
§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen › III. Sekundäres und tertiäres Unionsrecht
III. Sekundäres und tertiäres Unionsrecht
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Fall 7:
Spanier S möchte auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt traditionelle Gebäck-Spezialitäten anbieten, „Lübecker Marzipan“, „Aachener Printen“, „Meißner Fummel“ und „Nürnberger Lebkuchen“. Sämtliche Produkte werden in Spanien nach original deutschen Rezepturen produziert. Allerdings wird ihm ein Standplatz verweigert. Die Stadt begründet dies mit einer drohenden „Irreführung der Verbraucher“. Wer deutsche Spezialitäten kaufe, könne erwarten, dass diese auch in Deutschland hergestellt worden seien. Dies ergebe sich schon aus der VO (EU) Nr 1151/2012. Sämtliche Spezialitäten seien auf ihrer Grundlage von der Kommission als „geschützte geographische Angaben (g.g.A.)“ registriert, so dass mindestens eine der Produktionsstufen in Verbindung mit dem Herkunftsgebiet stehen muss, was bei den Produkten des S nicht der Fall sei. Die Begriffe seien gemäß Art. 13 Abs. 1 lit a) VO gegen jede direkte oder indirekte kommerzielle Verwendung geschützt. Ausländische Waren dürften daher unter diesen Namen nicht angeboten werden. S sieht in der VO eine unzulässige Behinderung des freien Warenverkehrs, wie der EuGH für vergleichbare nationale Regelungen in ständiger Rechtsprechung entschieden habe.
a) | Auf welche Weise könnte S eine gerichtliche Überprüfung der Verordnung erreichen? |
b) | Würde sich an der gerichtlichen Kontrollbefugnis etwas ändern, wenn sich die Regelung in einem delegierten Rechtsakt der Kommission fände? |
a) Sekundärrecht
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Nach Art. 288 AEUV erlassen die Gemeinschaftsorgane Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen und Empfehlungen. Das Sekundärrecht „verdrängt“ in der Rechtspraxis zunehmend das primäre Unionsrecht. Verordnungen gelten gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und sind insoweit die „Gesetze“ der EU[214]. Es bedarf daher keines Durchführungsaktes, wenn sich nicht aus der VO selbst die Erforderlichkeit eines weiteren Aktes, insbes einer Maßnahme gegenüber dem Einzelnen (VA, Realakt, etc), ergibt[215]. Sie begründen gegebenenfalls Rechte und Pflichten des Einzelnen, auf die er sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen kann. Aus der unmittelbaren Geltung leitet der EuGH eine Anwendungssperre für entgegenstehendes nationales Recht ab[216]. Inzident haben die nationalen Gerichte also auch die Möglichkeit einer Überprüfung der Verordnung. Sowohl die Auslegung des Sekundärrechts als auch die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Primärrecht ist dann in einem Vorabentscheidungsverfahren zu klären (zum Ausschluss der Nichtigkeitsklage vgl Rn 92). Sie werden grundsätzlich von Parlament und Rat erlassen, im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ gemeinsam von Parlament und Rat, vgl Art. 289 Abs. 1 S. 1 AEUV[217].
b) Tertiärrecht
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Daneben kennt das Unionsrecht, vergleichbar der Rechtsverordnung nach Art. 80 GG, die „exekutive Rechtssetzung“ durch die Kommission. Diese kann delegierte Rechtsakte nach Art. 290 AEUV und Durchführungsrechtsakte nach Art. 291 Abs. 2 AEUV iVm VO 182/2011 erlassen. Diese Befugnis wird ihr in seltenen Fällen im Primärrecht eingeräumt (vgl Art. 106 Abs. 3 AEUV), vor allem aber in Richtlinien und Verordnungen, weswegen man bei der Rechtssetzung durch die Kommission von Tertiärrecht spricht. Delegierte Rechtsakte nach Art. 290 AEUV können zur Ergänzung oder Änderung bestimmter, nicht wesentlicher[218] Vorschriften des Sekundärrechts erlassen werden, Durchführungsrechtsakte nach Art. 291 AEUV beziehen sich auf die Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten[219]. Auf ausdrücklicher Grundlage im Sekundärrecht können auch Regulierungsagenturen (zu diesen und ihren Kompetenzen allgemein Rn 191 ff) rechtssetzend tätig werden[220]. Zunehmend wird die Ausarbeitung der Durchführungsrechtsakte auf Regulierungsagenturen übertragen (dazu Rn 38, 500 f). Diese werden anschließend von der Kommission verabschiedet, können aber grundsätzlich nicht geändert werden[221]. Dies wird teilweise als rechtswidrige