c) Individualrechtsschutz gegen Verordnungen
92
Neben dem Inzidentrechtsschutz, der beim mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts den nationalen Verwaltungsgerichten obliegt, kommt auch prinzipaler Rechtsschutz in Form der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV vor dem EuG[223] in Betracht. Tauglicher Klagegegenstand sind zunächst alle verbindlichen Rechtsakte der Gemeinschaft, also auch Verordnungen. Zulässig ist die Klage, wenn die Klagebefugnis[224] gegeben ist und der Kläger einen Anfechtungsgrund geltend macht. Ein solcher ist ohne weiteres gegeben, wenn ein Verstoß gegen den AEUV oder allgemeine Rechtsgrundsätze gerügt wird[225]. Die Klagebefugnis eines nichtprivilegierten Klägers ist in Art. 263 Abs. 4 AEUV geregelt. Dabei unterscheidet der AEUV nunmehr zwischen drei Alternativen. Während beim Adressaten einer VO nach der 1. Alt. in jedem Fall die Klagebefugnis gegeben ist, kann sich der Kläger nach der 3. Alt. nur gegen solche „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ zur Wehr setzen, die ihn „unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“. In allen anderen Fällen muss er zusätzlich die individuelle Betroffenheit geltend machen. Nach der in ständiger Rechtsprechung vom EuGH zu Art. 230 Abs. 4 EGV entwickelten und auf Art. 263 Abs. 4 2. Alt. AEUV übertragenen[226] „Plaumann-Formel“ ist eine natürliche oder juristische Person nur dann von einer Maßnahme individuell betroffen, wenn diese sie „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten“[227].
93
Damit käme auch in Fall 7a/b (Rn 89)[228] eine Nichtigkeitsklage in Betracht. Unmittelbar betroffen ist der Kläger nach der Rechtsprechung des EuGH dann, wenn die VO selbst und nicht erst eine in ihrer Folge hinzutretende Durchführungsmaßnahme in seinen Interessenkreis eingreift[229]. Dies ist zwar nicht hinsichtlich der Eintragung, wohl aber hinsichtlich des mit der Eintragung verbundenen Schutzes, der unmittelbar auf der VO beruht, der Fall. Es kommt daher entscheidend darauf an, ob S eine individuelle Betroffenheit geltend machen muss. Dies wäre dann zu verneinen, wenn es sich um einen „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ im Sinne der 3. Alt. handeln würde. Allerdings wird im Vertragstext selbst dieser wenig glückliche Begriff nicht erläutert[230]. Der Wortlaut jedenfalls spräche dafür, da es wenig sinnvoll erscheint, von Verordnungen ohne Verordnungscharakter zu sprechen. Allerdings würden dann alle Verordnungen im Sinne des Art. 288 AEUV unter Art. 263 Abs. 4 3. Alt. AEUV fallen und S müsste eine individuelle Betroffenheit nicht nachweisen. Eine solch umfassende Erweiterung sollte mit der Änderung des Wortlauts wohl nicht bezweckt werden[231]. Auch wenn dies vor allem während der Vorbereitung des Verfassungsvertrages gefordert worden war, hatte sich diese Auffassung nicht durchsetzen können. Das wirklich mit der Formulierung Gemeinte erschließt sich daher nur aus einem Vergleich mit dem Verfassungsvertrag. Nach diesem wurden Verordnungen des Rates und Richtlinien in „Gesetze“ bzw „Rahmengesetze“ umbenannt[232]. Von Verordnungen wurde nur noch bei solchen Rechtsakten gesprochen, die nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen worden sind[233]. Wenn also im Kontext der Klagebefugnis von „Verordnungscharakter“ die Rede war, nahm dies die zu „Gesetzen“ aufgewerteten Formen aus, hielt also insoweit an der strengeren (bisherigen) Fassung der Klagebefugnis fest. Bei der Formulierung des Lissabon-Vertrags wurde diese Frage nicht mehr aufgegriffen. Die Verwirrung ist darauf zurückzuführen, dass der Begriff des Gesetzes gestrichen und beide Varianten weiterhin als Verordnungen bezeichnet wurden. Beibehalten wurde allerdings der Begriff des Gesetzgebungsaktes. Er betrifft nach Art. 289 Abs. 3 AEUV solche Rechtsakte, die entweder im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (gemeinsamer Erlass durch Rat und Parlament, Art. 289 Abs. 1 AEUV) oder dem besonderen Gesetzgebungsverfahren (unter bloßer Beteiligung des Parlaments, Art. 289 Abs. 2 AEUV) erlassen worden sind. Damit handelt es sich nur dann um Rechtsakte „mit Verordnungscharakter“ im Sinne der 3. Alternative des Art. 263 Abs. 4 AEUV, wenn diese außerhalb dieser Gesetzgebungsverfahren erlassen werden[234]. Dies gilt insbes für delegierte Rechtsakte, die nach Art. 290 Abs. 1 AEUV ausdrücklich solche „ohne Gesetzescharakter“ sind, sowie Durchführungsrechtsakte nach Art. 291 Abs. 2 AEUV. Da es sich im vorliegenden Fall um eine VO handelt, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurde, ist Art. 263 Abs. 4 3. Alt. hier nicht anwendbar[235]. Würde sich die Regelung dagegen in einem Tertiärrechtsakt befinden, wäre die Klagebefugnis gegeben; die Nichtigkeitsklage übernimmt also für das Tertiärrecht die Funktion eines Normenkontrollverfahrens ähnlich § 47 VwGO. Allerdings hat der EuGH seine Rechtsprechung, wonach Einzelne im Rahmen eines nationalen Verfahrens nicht die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Maßnahme geltend machen können, wenn sie nach Art. 263 Abs. 4 AEUV „zweifelsfrei“ innerhalb der Klagefrist Nichtigkeitsklage hätten erheben können, auf tertiärrechtliche Verordnungen erstreckt, so dass dann – anders als im Verhältnis von § 47 VwGO und der inzidenten Normenkontrolle – eine „Bestandskraft“ tertiärrechtlicher Verordnungen eintreten kann[236], was freilich vor dem Hintergrund des Art. 47 GRCh einer restriktiven Anwendung bedarf.
2. Richtlinien
94
Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlässt diesen aber die Auswahl von Form und Mittel, die sie für die Erreichung des Zieles als geeignet ansehen[237]. Auch im Wirtschaftsrecht wird daher die Richtlinie immer dann eingesetzt, wenn die Besonderheiten des nationalen Rechts möglichst weitgehend gewahrt bleiben sollen. In einigen Fällen wurde aber auch mit dem Instrument der Richtlinie eine weitgehende Harmonisierung erreicht (s. zum Regulierungsrecht Rn 496). Die Umsetzung einer Richtlinie durch die Mitgliedstaaten muss vollständig, genau und innerhalb der in der Richtlinie gesetzten Frist erfolgen. Sie muss es den Betroffenen ermöglichen, von ihren Rechten und Pflichten Kenntnis zu erlangen, um sie vor den nationalen Gerichten geltend machen zu können. Eine bloße innerstaatliche Verwaltungspraxis oder eine Umsetzung durch Verwaltungsvorschriften ohne Außenwirkung gegenüber dem Bürger genügt daher nicht[238]. Für den Fall, dass diese Anforderungen nicht eingehalten werden, hat der EuGH drei Durchsetzungsmechanismen entwickelt: Die unmittelbare Wirkung, die richtlinienkonforme Auslegung und die Staatshaftung[239].
a) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen
95
Obwohl diese sich ihrem Wortlaut nach nur an die Mitgliedstaaten richten, leitet der EuGH auch aus Richtlinien unmittelbar wirkende Rechte Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat ab (vertikale Wirkung)[240]. Bei fehlender oder fehlerhafter Umsetzung kann sich der Einzelne auf eine konkrete Richtlinienbestimmung berufen, sofern sie „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau“ ist. Inhaltlich unbedingt ist eine Bestimmung, wenn sie vorbehaltlos und ohne Bedingung anwendbar ist und keiner weiteren Maßnahme seitens der Mitgliedstaaten oder der Union bedarf. Hinreichend genau ist sie, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet, also rechtlich in sich abgeschlossen ist und als solche von jedem Gericht angewandt werden kann[241]. Liegen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendbarkeit vor, haben nicht nur die nationalen Gerichte, sondern auch alle anderen staatlichen Stellen diese trotz möglicherweise entgegenstehenden nationalen Rechts von Amts wegen anzuwenden.
Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit ist außerdem der Ablauf der Umsetzungsfrist. Mögliche Wettbewerbsverzerrungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, die aus einer zeitlich unterschiedlichen, aber fristgemäßen Umsetzung resultieren, sind hinzunehmen[242]. Die unmittelbare Wirkung beschränkt sich allerdings auf das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Allerdings wird der Begriff der staatlichen Stellen dabei weit verstanden. Der Umstand, dass im Verhältnis zwischen Privaten eine sog. horizontale unmittelbare Richtlinienwirkung ausgeschlossen ist[243], bedeutet allerdings für das öffentliche Recht keineswegs, dass eine (mittelbare) Belastung Dritter ausgeschlossen ist, wenn sich ein Privater auf umwelt- oder wirtschaftsrechtliche