2. Europäisches Parlament
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 122-139.
a) Bedeutung und Zusammensetzung
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Das seit 1979 von allen wahlberechtigten EU-Bürgern direkt gewählte Europäische Parlament (EP) ist das einzige unmittelbar demokratisch legitimierte Organ. Die Abgeordneten des EP sind gem. Art. 14 II UA 1 EUV Vertreter der Unionsbürger. Daher liegt beim EP der Schwerpunkt der demokratischen Legitimation des Handelns der EU.
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Der Charakter des EP ist allerdings nicht der einer einheitlich-gesamteuropäischen Volksvertretung, sondern der eines „Verbundparlaments“.[4] Zwar werden die Abgeordneten einerseits EU-weit (nahezu) zeitgleich direkt gewählt und wirken in identischer Rechtsstellung innerhalb des Parlaments zusammen. Andererseits aber – und daher der Verbundcharakter – handelt es sich bei näherer Betrachtung „nur“ um einen Zusammenschluss von Abordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Am deutlichsten ist dies daran zu erkennen, dass nicht jedem Mitgliedstaat die gleiche Anzahl an Sitzen bezogen auf die Wahlbevölkerung zusteht (vgl. Art. 14 II UA 1 3, 4 EUV) und die Wahl weitgehend nach jeweils nationalen Vorschriften erfolgt (s.u., Rn. 105 f.).
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Dem EP gehören 705 Mitglieder an,[5] die sich nicht nach herkunftsstaatlichen Gesichtspunkten, sondern nach parteipolitischen Ausrichtungen organisieren (neben der parlamentsüblichen Fachstruktur in Ausschüssen). Die meisten Mitglieder des EP gehören daher staatenübergreifenden politischen Fraktionen an. Um den Fraktionsstatus zu erlangen, müssen sich mindestens 25 Mitglieder aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten (zur Zeit also sieben) zusammenschließen (Art. 33 Nr. 2 GO EP). Die Arbeit des EP wird ganz wesentlich von den zwei großen Fraktionen getragen, die bis 2019 zusammen mehr als die Hälfte aller Abgeordneten umfasst haben (Fraktion der Europäischen Volkspartei und die Progressive Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament).[6] Die eigentliche Integrationsleistung des EP erfolgt innerhalb dieser Parteienfamilien, in denen sprachliche, nationale und politisch-kulturelle Unterschiede (die es auch bei grundsätzlich ähnlicher politischer Ausrichtung gibt) verarbeitet werden.[7]
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Das EP ist das einzige kontinuierlich arbeitende Organ der EU, dessen Sitz sich auf drei verschiedene Orte verteilt: In Straßburg finden die zwölf monatlichen Plenartagungen statt, während die übrigen Plenarsitzungen sowie alle Ausschusssitzungen in Brüssel abgehalten werden. Die Verwaltung des EP (das Generalsekretariat) hingegen residiert in Luxemburg. Angesichts dieser für die praktische Parlamentsarbeit wenig zuträglichen Situation verwundert es nicht, dass es immer wieder Vorstöße aus dem EP zur Zentralisierung des Parlaments in Brüssel gibt. Da aber die Zuständigkeit für die Festlegung der Organsitze bei den Mitgliedstaaten liegt (Art. 341 AEUV, mit Einstimmigkeitsgebot), wird angesichts der verschiedenen nationalen (v.a. französischen) Interessen dieser kostenintensive und kontraproduktive Wanderzirkus-Charakter[8] wohl noch lange fortbestehen.
aa) Wahlrecht
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Die Abgeordneten werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für fünf Jahre gewählt (Art. 14 III EUV). Bei dieser Aufzählung fehlt nicht zufällig der Wahlrechtsgrundsatz der gleichen Wahl. Denn wie bereits erwähnt, ist die Wahlrechtsgleichheit nicht staatenübergreifend gewährleistet. Vielmehr bekommen die sehr kleinen EU-Staaten eine Mindestzahl von sechs Abgeordneten garantiert, während die Abgeordnetenzahl bei den großen EU-Staaten degressiv proportional abgeflacht wird. Umso größer die Wahlbevölkerung eines Staates ist, desto weniger steigt das nationale Abgeordnetenkontingent an und desto geringer ist das Stimmgewicht des einzelnen Wählers. Zudem ist die Höchstzahl der Abgeordneten auf 96 beschränkt, was für Deutschland als wählerstärkstes Mitgliedsland relevant ist. Damit beträgt das Stimmgewicht eines luxemburgischen Wählers ca. das Zehnfache gegenüber einem deutschen Wähler.[9]
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Nähere Einzelheiten des Wahlrechts regelt der Direktwahlakt (DWA), wonach eine Verhältniswahl vorgeschrieben und Sperrklauseln bis zu 5 % sowie eine Wahlkampfkostenobergrenze zulässig sind. Da der DWA (trotz des Regelungsauftrags in Art. 223 I AEUV) aber kein umfassendes Wahlrechtsgesetz darstellt, werden alle übrigen Details von den Mitgliedstaaten für ihr jeweiliges Abgeordnetenkontingent (in Deutschland also im Europawahlgesetz) geregelt.
bb) Abgeordnetenrecht
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Die Rechtsstellung der Abgeordneten ist hauptsächlich im DWA sowie – vor allem – im sekundärrechtlichen Abgeordnetenstatut geregelt (Art. 223 II AEUV). Besonders hervorzuheben sind das Freie Mandat (Art. 2, 3), das Antragsrecht (Art. 5), das Akteneinsichtsrecht (Art. 6), das Recht zur Bildung von Fraktionen (Art. 8), die Diäten- und Versorgungsregeln (Art. 9-18) sowie die Regeln zur Sach- und Personalausstattung (Art. 21, 22). Hinzu kommen noch die an anderer Stelle[10] geregelte Immunität und Indemnität. Das ergänzende deutsche Europaabgeordnetengesetz sieht zudem (nur nationalrechtlich) einen Anspruch auf Wahlvorbereitungsurlaub und ein Zeugnisverweigerungsrecht vor (§§ 4, 6).
cc) Geschäftsordnung
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Die jährliche Sitzungsperiode des EP beginnt stets am zweiten Dienstag im März (Art. 229 UA 1 AEUV). Die Kommission hat an allen Sitzungen ein Teilnahme- und Rederecht und ist zur Beantwortung dort gestellter Fragen verpflichtet (Art. 230 AEUV). Die Beschlüsse des EP erfolgen – soweit keine besonderen Mehrheiten vorgeschrieben sind – mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 231 UA 1 AEUV). Mit der Mehrheit seiner Mitglieder gibt sich das EP eine Geschäftsordnung (Art. 232 UA 1 AEUV), die u.a. die Beschlussfähigkeit festlegt (Art. 231 UA 2 AEUV).
aa) Rechtssetzungsfunktion
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Für gewöhnlich gehört die Rechtssetzung zum Kernbestand parlamentarischer Aufgaben, weil das Parlament als Hauptorgan der gesetzgebenden Gewalt (Legislative) gilt. Das EP war jedoch zunächst lange Zeit ein bloßes Beratungsorgan ohne Entscheidungskompetenzen, bis sich in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon viel getan hat. Deshalb stellt Art. 14 I 1 EUV das EP heute als Mitgesetzgeber auf die Stufe des traditionell in der Gesetzgebung starken (Minister-)Rates.[11]
110
Allerdings