2.1.4Rechtsetzung durch formalisierte Verfahren
Wie schwierig und häufig umstritten es ist, „gerechte“ Entscheidungen zu treffen und dem Gerechtigkeitsgefühl entsprechende Rechtsnormen zu verabschieden, ist bereits in Kapitel 1 deutlich geworden (siehe 1.3.4). Wie dargestellt lässt sich nämlich oft nicht ohne Weiteres sagen, welche Festlegungen „gerecht“ sind, weil nicht selten mehrere „gerechte“ Entscheidungen und Rechtsnormen denkbar erscheinen. Auch der Verweis auf das „Gerechtigkeitsgefühl“ (wessen?) oder auch auf die „Vernunft“ (von wem?) führt oft nicht weiter, da Gefühle und Ansichten über das „Vernünftige“ allzu häufig auseinander gehen.
Von daher liegt es nahe, dass der Gesetzgeber sich zwischen mehreren Alternativen „gerechter“ oder „vernünftiger“ Rechtsnormen entscheidet und durch die Schaffung entsprechender Rechtsnormen damit verbindlich festlegt, was „rechtens“ sein soll (vgl. oben 1.3.4). Wichtig für die Legitimation solcher Entscheidungen ist, dass dabei bestimmte Verfahrensregelungen eingehalten worden sind, die z. B. gewährleisten, dass zumindest eine umfassende Abwägung zwischen verschiedenen Alternativen und dass eine umfassende Beteiligung der relevanten Institutionen und Organisationen stattgefunden hat. In nahezu allen Verfassungen wird deshalb detailliert vorgegeben, wie Gesetzgebungsverfahren abzulaufen haben und wie das Zusammenwirken im Parlament, mit der Regierung und ggf. den Verbänden oder anderen Beteiligten zu erfolgen hat.
2.1.5Zunahme des Bestandes an Rechtsnormen
Die Anzahl und der Umfang von Rechtsnormen haben seit Jahrzehnten immer mehr zugenommen. Wesentliche Gründe für die Zunahme des Bestandes an Rechtsnormen sind u. a. in Übersicht 5 angeführt.
Übersicht 5
Gründe für die Zunahme des Bestandes an Rechtsnormen:
– Rückgang traditioneller Hilfepotentiale
– Zunahme öffentlicher Hilfen
– Zunahme von Verrechtlichung durch „Vergesetzlichung“
– Zunahme von Verrechtlichung aufgrund von „Vergerichtlichung“
– Rechtliche Regelung bisher nicht geregelter sozialer oder ökonomischer Sachverhalte
Vertiefung: Traditionelle Hilfepotentiale stell(t)en neben den Kernfamilien die Großfamilien, die Nachbarschaft oder die dörfliche Gemeinschaft dar. Die (Groß-)Familie war Jahrtausende lang – und ist es in vielen Teilen der Welt bis heute – Grundlage und Garant für die Alterssicherung. Von daher war man bemüht, möglichst viele Kinder zu bekommen. Auch was sonst von der engeren Familie nicht geleistet werden konnte, übernahm mitunter die Großfamilie oder die dörfliche Gemeinschaft. Der soziale Wandel hat zumindest in West- und Mitteleuropa weitgehend dazu geführt, dass diese traditionellen Hilfepotentiale stark zurückgegangen oder fast vollständig verschwunden sind.
Dies ging gleichsam Hand in Hand mit der Zunahme öffentlicher Hilfen, etwa in Form der Krankenversicherung, der Rentenversicherung oder der Versicherung gegen andere Lebensrisiken sowie in Form von staatlicher Fürsorge und staatlichem Schutz. In Deutschland kam es seit den 1880er Jahren zur Entwicklung der Kranken-, Invaliden-, Unfall- und Rentenversicherung, und die Sozialgesetzgebung wurde in den folgenden Jahrzehnten immer weiter ausgebaut.
Damit einher ging eine wesentliche Ausweitung des Bestandes an Rechtsnormen aufgrund neuer Gesetze, es kam also zu einer zunehmenden Verrechtlichung durch „Vergesetzlichung“. Dies gilt keineswegs nur für den Sozialbereich, sondern für fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Mit der Zunahme des Straßenverkehrs wurden entsprechende Rechtsnormen in diesem Bereich erforderlich. Mit Blick auf die Wirtschaft mussten Rechtsnormen geschaffen werden, die Wettbewerb ermöglichen oder begrenzen, Arbeitnehmer schützen oder bestimmte Wirtschaftsbeziehungen insgesamt „ordnen“.
Da aber kaum ein Gesetz alle nur denkbaren Fälle regeln kann, ist es Aufgabe der Gerichte, nicht nur Streit zu schlichten, sondern auch Recht fortzuentwickeln. Durch Entscheidungen von Gerichten entsteht also Recht in Form von „Richterrecht“, das die vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtsnormen interpretiert und ergänzt. Das dadurch geschaffene Richterrecht wird so ebenfalls zu einem maßgeblichen Orientierungspunkt für die Rechtspraxis. Insbesondere höchstrichterliche Entscheidungen der obersten Bundesgerichte tragen maßgeblich zur Rechtsfortentwicklung bei (Verrechtlichung durch „Vergerichtlichung“).
2.2Objektive und subjektive Rechtsnormen
2.2.1Objektives und subjektives Recht
Für die gesamte Rechtsordnung und auch die Soziale Arbeit ist es wichtig, zwischen objektivem und subjektivem Recht zu unterscheiden.
Unter objektivem Recht oder objektiven Rechtsnormen versteht man die gesamte Rechtsordnung bzw. die Gesamtheit der existierenden Rechtsnormen. Dazu zählen alle Gesetze wie z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) oder das Sozialgesetzbuch (SGB). Auf die dort enthaltenen objektiven Rechtsnormen kann sich der Einzelne allerdings nur berufen bzw. auf ihrer Grundlage Klage vor den Gerichten erheben, wenn ihm zusätzlich auch ein subjektives Recht, meist in Form eines (Rechts-)Anspruchs, zusteht. Häufig ist es so, dass mit objektiven Rechtsnormen auch subjektive Rechte Einzelner verbunden sind. Allerdings ist dies keineswegs immer der Fall. Deshalb muss man objektive und subjektive Rechte voneinander unterscheiden, wie die Übersicht 6 verdeutlicht.
Übersicht 6
Rechte
1.Objektives Recht
= die gesamte Rechtsordnung
= die Gesamtheit der Rechtsnormen
2.Subjektive Rechte
= Rechte des Einzelnen
2.1Herrschaftsrechte als Rechte,
2.1.1die sich gegen jedermann richten (= absolute Rechte), z. B. Eigentumsrechte;
2.1.2die sich gegen einzelne Personen richten (= relative Rechte), z. B. Forderungen aufgrund eines Kaufvertrages.
2.2Gestaltungsrechte, z. B. Kündigung eines Mietvertrages
2.3(Rechts-) Ansprüche
2.3.1des Privatrechts (§ 194 BGB),
2.3.2des öffentlichen Rechts (z. B. §§ 24, 27 SGB VIII).
Vertiefung: Objektive Rechtsnormen stellen gleichsam Verpflichtungen Einzelner bzw. eines Trägers hoheitlicher Verwaltung dar. Berufen kann sich der Bürger jedoch nur auf subjektive Rechte, die ihm ausdrücklich in einer Rechtsnorm zugebilligt werden; diese kann er dann auch vor Gerichten gegen den Willen anderer durchsetzen („einklagen“). Die wichtigsten subjektiven Rechte, als Rechte des Einzelnen, sind Ansprüche; vielfach wird dafür auch der inhaltsgleiche Begriff „Rechtsansprüche“ verwendet. Solche gibt es sowohl im privaten Recht als auch im öffentlichen Recht. § 194 BGB definiert einen privatrechtlichen Anspruch allgemein als das Recht eines Einzelnen, von einem anderen ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu verlangen. Aufgrund eines Kaufvertrages hat der Käufer gemäß § 433 BGB z. B. einen Anspruch, von dem Verkäufer die Übergabe eines gekauften Autos zu verlangen, während der Verkäufer gegenüber dem Käufer einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung hat.
Beispiele des öffentlichen Rechts für ein solches subjektives Recht in Form eines Anspruchs sind etwa der Anspruch eines Kindes ab dem vollendeten ersten/dritten Lebensjahr auf den Besuch einer Tageseinrichtung (§ 24 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB VIII). Und ein Personensorgeberechtigter (zumeist ein Vater und/oder eine Mutter) hat unter bestimmten Voraussetzungen gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung. In beiden Fällen können diese Ansprüche gegenüber der öffentlichen Verwaltung (hier: dem Jugendamt) vor Gericht „eingeklagt“ und damit durchgesetzt werden.
2.2.2Möglichkeiten