Grundkurs Recht für die Soziale Arbeit. Reinhard J. Wabnitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard J. Wabnitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846353868
Скачать книгу
die Rechtswissenschaft. Die Rechtswissenschaft ist einerseits „exegetische“ Geisteswissenschaft, indem sie sich ähnlich wie die Theologie mit der Schaffung und Interpretation von (Gesetzes-, Verordnungs- oder Vertrags-)Texten befasst. Die Rechtswissenschaft ist wegen ihrer engen Bezüge etwa zur Soziologie, Politologie oder den Wirtschaftswissenschaften aber auch als Sozialwissenschaft zu verstehen. In Randbereichen (der Kriminalwissenschaften) hat sie auch Bezüge zu den Naturwissenschaften (etwa bei der Auswertung von Spuren oder der Untersuchung von Körperteilen mit den Methoden der Kriminaltechnik). Obwohl hier manches umstritten ist, kann man sich m. E. bezüglich des Verhältnisses von Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften auf diese Gliederung der Wissenschaften verständigen (siehe Übersicht 2).

      Übersicht 2

      Beispielhafte Gliederung der Wissenschaften

      1.Geisteswissenschaften

      1.1Geschichte

      1.2Philosophie

      1.3Theologie

      1.4Literaturwissenschaft

      1.5Sozialwissenschaft

      1.5.1Politikwissenschaft

      1.5.2Soziologie

      1.5.3Psychologie

      1.5.4Wirtschaftswissenschaften

      1.5.5Sozialarbeitswissenschaft

      1.5.6Rechtswissenschaft

      2.Naturwissenschaften

      2.1Mathematik

      2.2„reine“ Naturwissenschaften: Physik, Chemie, Biologie

      2.3„angewandte“ Naturwissenschaften, z. B. Ingenieurwissenschaften

      2.4Kriminalwissenschaft

      Anekdotische Vertiefung: Recht und Rechtswissenschaft werden maßgeblich geprägt durch „die Juristen“. Wie viele andere Berufsgruppen auch sehen sich Juristen vielfältigen Zuschreibungen, Zuspitzungen und Vorurteilen ausgesetzt: „Juristen sind elitär und arrogant“, zudem „weltfremd und allein auf das Recht fixiert“, wie folgende bekannte kleine Geschichte illustrieren mag.

      An einem schönen Frühlingstag, an dem die Sonne scheint, die Blumen blühen und die Vögel zwitschern, stehen nebeneinander in einer großen Parkanlage: ein Maler, ein Schriftsteller, ein Komponist – und ein Jurist. Der Maler sagt: „Wie schön! Ich male ein Bild mit vielen bunten Blumen.“ Und der Schriftsteller sagt: „Ich schreibe ein Gedicht, am besten ein Liebesgedicht mit vielen Strophen.“ Und der Komponist sagt: „Ich schreibe dazu eine wunderbare Melodie.“ Und alle drei vertiefen sich in ihre Phantasien und denken daran, vielleicht miteinander ein „Gesamtkunstwerk“ zu schaffen. Nur einer der vier steht unbeteiligt am Rande daneben und zeigt nur auf das Schild am Rande der Wiese, auf dem „Betreten verboten“ steht.

      Solche Karikaturen gibt es natürlich auch für andere Berufsgruppen. Kennen Sie schon die folgende Geschichte? Ein Sozialarbeiter geht durch die Stadt und wird von einem ortsfremden Passanten angesprochen. Dieser fragt: „Wo bitte geht es zum Bahnhof?“ Darauf antwortet der Sozialarbeiter: „Das weiß ich nicht. Aber ich finde es ganz toll, dass Sie mit mir darüber reden wollen!“

      Wenden wir uns noch einmal „den Juristen“ zu. Besonders wichtig erscheint – und dies gilt dann auch für Sozialarbeiter/innen als künftige „Rechtsanwender/innen“, dass man Recht nicht als Selbstzweck versteht, sondern als Bestandteil sozialer und gesellschaftlicher Prozesse und Veränderungen begreift. Recht ist nicht von der sozialen Wirklichkeit zu trennen, sondern ist vielmehr Bestandteil derselben. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies: Rechtswissen und soziales Handlungswissen immer in Wechselwirkung voneinander zu verstehen und im Interesse der Klientinnen und Klienten erfolgreich zu kombinieren!

      Recht verfolgt sehr unterschiedliche Ziele und hat verschiedene Funktionen. Die Übersicht 3 vermittelt einen Überblick über wesentliche Ziele und Funktionen von Recht, ohne dass damit eine prioritäre Reihenfolge verbunden wäre und ohne dass alle Ziele gleichzeitig erreicht werden könnten, weil diese mitunter in einem Spannungsverhältnis oder gar in Widerspruch zueinander stehen. Eine wesentliche Aufgabe von Recht besteht deshalb auch darin, einen Ausgleich zwischen ggf. nicht in Einklang zu bringenden Zielen und Funktionen von Recht zu schaffen!

      Übersicht 3

      Ziele und Funktionen von Recht

      1.Interessenausgleich

      2.Freiheitssicherung

      3.Gewährleistung von Gleichheit

      4.Gewährleistung von Gerechtigkeit

      5.Gewährleistung von Rechtssicherheit

      6.Friedenssicherung

      7.Steuerung gesellschaftlicher Prozesse

      8.Erziehung

      9.Abschreckung

      10.Strafe

      Vertiefung (1.3.1 bis 1.3.10):

      Eine ganz wesentliche Funktion von Recht ist der Ausgleich von unterschiedlichen, oft widerstreitenden Interessen verschiedener Menschen, gesellschaftlicher Gruppen, Institutionen etc. Beispiele für solche Interessengegensätze, die das Recht auszugleichen versucht, gibt es in großer Zahl.

      Beispiel:

      Mieter und Vermieter sind zwar Vertragsparteien, wenn sie einen Mietvertrag abgeschlossen haben; trotzdem können Ihre Interessen widerstreitend sein, z. B. mit Blick auf die Dauer des Mietverhältnisses, die Miethöhe, die Möglichkeit einer Kündigung etc. Mit Hilfe der §§ 535 ff. BGB wird deshalb versucht, einen Interessenausgleich zu erreichen, und werden Regelungen für Konfliktfälle getroffen.

      Interessengegensätze bestehen typischerweise auch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, z. B. mit Blick auf Gehaltsstrukturen, Arbeitszeit, Urlaub, Kündigung von Arbeitsverhältnissen etc. Die hier bestehenden Interessenunterschiede werden zumeist dadurch ausgeglichen, dass sich beide Seiten auf Tarifverträge verständigen, für die das Tarifvertragsgesetz wiederum einen breiten, aber verbindlichen Rahmen darstellt.

      Erhebliche Interessengegensätze etwa zwischen Fragen von Ökonomie und Ökologie stellen sich bei jedem industriellen Großprojekt, wo Interessenunterschiede zwischen ansiedlungswilligen Unternehmen und den in der Region lebenden Bürgerinnen und Bürgern bestehen können, wenn es z. B. um die Ansiedlung eines neuen Einkaufszentrums, um die Ausweisung eines Industriegebietes oder um den Ausbau eines Flughafens geht. Das Recht versucht deshalb, mit differenzierten Regelungen zu einem Interessenausgleich beizutragen, z. B. in Gesetzen im Bereich von Raumordnung, Landesplanung, Flächennutzungs- und Bauleitplanung, im Straßenrecht, im Immissionsschutzrecht, Wasserrecht, Luftverkehrsrecht etc.

      Das Ziel „Freiheitssicherung“ entspricht einem der drei großen Ziele der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und zugleich aller modernen Verfassungen. Gewährleistung und Sicherung von Freiheit als eines der zentralen Ziele der Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert und eines der Ziele der bürgerlichen Revolutionen im 19. Jahrhundert bedeutete in klassischer Form zunächst „Freiheit vor dem Staat“, Freiheit vor staatlicher Bevormundung und Gängelung; und dementsprechend finden sich in den meisten modernen Verfassungen Normierungen von Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger. Auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) beinhaltet zahlreiche Freiheitsrechte als Grundrechte. Art. 2 GG beinhaltet mehrere allgemeine Freiheitsrechte, Art. 4 GG die Glaubens- und Gewissens-Freiheit, Art. 5 GG u. a. die Meinungs-, Informations-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit, Art. 8 GG die Versammlungsfreiheit, Art. 9 GG die Vereinigungsfreiheit, Art. 10 GG Freiheiten mit Blick auf den Brief-, Post- und Telekommunikationsverkehr. Art. 11 GG beinhaltet ein Grundrecht auf Freizügigkeit, Art. 12 GG auf Berufs- und Berufsausübungsfreiheit, Art. 13 GG auf Freiheit vor Eingriffen in die Wohnung, Art. 14 GG gewährleistet