Weiteres Beispiel:
Studentin A. will Soziale Arbeit studieren. Ihre Eltern, die in sehr bescheidenen Verhältnissen leben, können sie dabei nicht finanziell unterstützen. A. kann auch nicht nebenbei arbeiten gehen, weil sie noch ihre kranke Mutter betreut. A. ist deshalb auf Zahlungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) angewiesen und muss sich darauf verlassen können, dass die gesetzlichen Regelungen des BAföG für sie während ihres Studiums so bleiben, wie sie zu Studienbeginn bestanden haben.
Die beiden Beispiele zeigen, dass das Verfolgen von Zukunftsplänen Orientierungssicherheit und Realisierungssicherheit voraussetzt. Beides im Sinne von Rechtssicherheit zu gewährleisten, ist deshalb ein weiteres wesentliches Ziel und eine wesentliche Funktion von Recht. Rechtssicherheit soll gewährleisten, dass man sich auf die Geltung von rechtlichen Normen verlassen kann. Rechtssicherheit soll also Messbarkeit und Berechenbarkeit von Recht gewährleisten. Deshalb gilt bei staatlichem Handeln der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Und deshalb gibt es auch das (rechtsstaatliche) Verbot rückwirkender Strafgesetze und rückwirkender Besteuerung. Es ist ein Gebot der Rechtssicherheit, sich darauf verlassen zu können, dass Strafgesetze oder Steuergesetze so gelten, wie dies im Zeitpunkt der Begehung einer Straftat oder im Zeitpunkt des Entstehens der Steuerpflichtigkeit der Fall gewesen war.
1.3.6Friedenssicherung
Eine wesentliche Funktion von Recht ist die der Friedenssicherung, in der in früheren Jahrhunderten sogar die wesentliche Legitimation staatlichen Handelns gesehen wurde. Friedenssicherung gilt nach innen und außen. Nach „innen“, also innerhalb des jeweiligen Staates, erfolgt Friedenssicherung u. a. durch das Strafrecht, das Strafprozessrecht, das Polizeirecht, das Straßenverkehrsrecht u. v. m. Friedenssicherung nach „außen“ soll erreicht werden durch das Friedensvölkerrecht, das Kriegsvölkerrecht, Konventionen der Vereinten Nationen, Verträge z. B. über Truppenabbau, Atomwaffenabbau usw. Internationale Gerichte wachen über die Einhaltung dieser völkerrechtlichen Grundsätze und verurteilen ggf. Kriegsverbrecher (z. B. die überlebenden Hauptschuldigen des Nationalsozialismus in den Nürnberger Prozessen 1946 oder Hauptschuldige von Kriegsverbrechen in den 1990er Jahren auf dem Territorium des früheren Jugoslawiens).
1.3.7Steuerung gesellschaftlicher Prozesse
Eine ganz wesentliches allgemeines Ziel und eine ganz bedeutende weitere Funktion von Recht ist die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse. Auf die Vorschriften des Baurechts, Raumordnungsrechts, Straßenverkehrs- und Luftverkehrsrecht etc. zur Steuerung von „Großvorhaben“ ist bereits hingewiesen worden. Aufgrund des Steuerrechts werden Abgaben erhoben, die zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben erforderlich sind. Zahlreiche Rechtsnormen greifen steuernd in das Wirtschaftsleben ein, z. B. solche des Gewerberechts, des Wettbewerbsrechts, Kartellrechts, des Arbeitsrechts.
Und nicht zuletzt werden durch das Sozialrecht in einem außerordentlich bedeutsamen Umfange gesellschaftliche Prozesse gesteuert. Aufgrund des Sozialgesetzbuchs (SGB) und weiterer Sozialgesetze wird in Deutschland zurzeit ca. ein Drittel des jährlich erwirtschafteten Bruttosozialprodukts „umverteilt“, im Wesentlichen für die Finanzierung von Sozialleistungen.
1.3.8Erziehung
Es gibt Rechtsnormen, mit denen erzieherische Ziele verfolgt werden. Auch dies kann eine Funktion von Recht sein. Auch wenn die Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vorrangig das Recht (und die Pflicht) zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder haben, wird ab dem Schulalter von Kindern auch der staatlichen Gemeinschaft ein Erziehungsrecht ihnen gegenüber eingeräumt, und zwar insbesondere in den Schulgesetzen (der Länder). Auch das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilfe – ist insoweit ein Erziehungsgesetz, als es die Erziehung der Eltern in der Familie unterstützt, ergänzt und (ausnahmsweise) sogar ersetzt. Des Weiteren werden mit dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) als einem speziellen Strafgesetz für Jugendliche und Heranwachsende bis zum Alter von unter 21 Jahren u. a. erzieherische Zielsetzungen verfolgt (siehe 14.3).
1.3.9Abschreckung
Daneben haben sowohl das Jugendstrafrecht als auch das Erwachsenenstrafrecht Abschreckungsfunktion. Sie verfolgen explizit und implizit das Ziel, durch Androhung von Strafe zu verhindern, dass Straftaten überhaupt begangen werden. Ähnliche Ziele verfolgen auch manche Regelungen des Ordnungswidrigkeitenrechts.
1.3.10Strafe
Insbesondere die Rechtsnormen des Strafrechts einschließlich des Strafprozessrechts und des Jugendstrafrechts dienen dem Ziel und haben die Funktion, einzelne Bürgerinnen und Bürger zu bestrafen, wenn sie gegen Strafgesetze verstoßen haben. Damit wird der Anspruch des Staates realisiert, strafbares Verhalten zu ahnden. Aufgrund der Entscheidung eines unabhängigen Strafgerichts kann deshalb Freiheitsstrafe verhängt oder zur Bewährung ausgesetzt werden, oder es kommt ggf. zur Verhängung von Geldstrafen, zum Ausspruch eines Fahrverbotes im Straßenverkehr oder zur Einziehung von Gegenständen (Tatwaffen). Näheres dazu wird in den Kapiteln 13 und 14 ausgeführt.
2Rechtsnormen
2.1Charakteristika von Rechtsnormen
Übersicht 4
Charakteristika von Rechtsnormen
– Normierung menschlichen Verhaltens
– Rechtsetzung durch den Staat
– Rechtsetzung durch Mehrheitsentscheidung
– Rechtsetzung durch formalisierte Verfahren
2.1.1Normierung menschlichen Verhaltens
Gegenstand von Rechtsnormen ist im Wesentlichen die Normierung menschlichen Verhaltens bzw. deren Rechtsbeziehungen. (In früheren Zeiten waren mitunter auch Vorschriften für die Natur und für Tiere vorgesehen, wenn z. B. ein Pferd einem Reiter einen tödlichen Tritt versetzt hatte. Als heute kurios anmutendes Beispiel gilt auch der Berner Maikäferprozess von 1479; vgl. Arzt 1996, 2).
2.1.2Rechtsetzung durch den Staat
Rechtsetzung durch Schaffung von Rechtsnormen mit allgemeiner Verbindlichkeit ist Aufgabe des Staates, dem insoweit ein Rechtsetzungsmonopol zukommt.
Vertiefung: Auch dies war in früheren Jahrhunderten nicht selten anders, als es etwa den Göttern oder einem einzelnen Gott oblag, Recht zu stiften. So wird z. B. in der Bibel berichtet, dass Gott seine zehn Gebote auf zwei steinerne Tafeln geschrieben habe (5. Buch Moses, 22). Spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert war das staatliche Rechtsetzungsmonopol jedoch nicht mehr umstritten, wenn es auch unterschiedlich begründet wurde. Die Begründung des Philosophen Rousseau war z. B. die, dass die Mitglieder der Gesellschaft mit dem Staat einen „contrait social“ („Sozialvertrag“) geschlossen und damit das Rechtsetzungsmonopol vertraglich an den Staat abgegeben haben, damit dieser verbindlich für alle Rechtsnormen setze.
„Staat“ kann dabei ein Nationalstaat sein oder als Gliedstaat eines solchen ein Bundesstaat in einem föderativen System wie der Bundesrepublik Deutschland, unter bestimmten Voraussetzungen auch eine kommunale Gebietskörperschaft. Von zunehmender Bedeutung ist zudem die Setzung von Rechtsnormen durch die Europäische Union sowie, wenn auch zum Teil erst in Ansätzen, durch die Vereinten Nationen.
2.1.3Rechtsetzung durch Mehrheitsentscheidungen
In den modernen demokratischen Staaten erfolgt die Setzung von Rechtsnormen zumeist aufgrund von Mehrheitsentscheidungen der vom Volk gewählten Abgeordneten in den Parlamenten. In Deutschland ist dies auf der Bundesebene der Deutsche Bundestag unter Mitwirkung des Bundesrates, in den Bundesländern sind dies die Landtage. Der dort zum Ausdruck gebrachte Mehrheitswille beinhaltet zwar keine Garantie für Gerechtigkeit oder sachliche „Richtigkeit“ der in Rechtsnormen einfließenden parlamentarischen