Grundkurs Recht für die Soziale Arbeit. Reinhard J. Wabnitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard J. Wabnitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846353868
Скачать книгу
mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“). Solche Generalklauseln werden mitunter etwas geringschätzig auch als „Gummiparagrafen“ bezeichnet. Sie dienen dazu, in abstrakter Weise etwas zu regeln, was sich mangels Vorhersehbarkeit aller künftigen Sachverhalte nicht konkret regeln lässt. Generalklauseln sind bewusst so flexibel formuliert, dass sie auch im Zeitpunkt des Erlasses der jeweiligen Rechtsnorm nicht vorhersehbaren Entwicklungen gerecht werden können. Zugleich ist es auch möglich, aufgrund von Generalklauseln „ungerechte“ Ergebnisse zu korrigieren, die sich bei strikter Anwendung einzelner Rechtsnormen ergeben würden.

      Vertiefung: Dahinter verbirgt sich auch ein rechtsphilosophisches Problem, das Juristen beschäftigt, seitdem es Rechtsnormen gibt. In dieser Kontroverse stehen Vertreter des so genannten Rechtspositivismus solchen des so genannten Naturrechts gegenüber. Die so genannten Rechtspositivisten wollen nur diejenigen Rechtsnormen akzeptieren, die formal ordnungsgemäß zustande gekommen sind und in Gesetzen und Rechtsverordnungen ihren konkreten Ausdruck gefunden haben. Nur diese dürften Geltung beanspruchen.

      Die Vertreter des so genannten Naturrechts gehen demgegenüber davon aus, dass es „über“ den in Gesetzen und Rechtsverordnungen staatlich gesetzten Rechtsnormen noch ein „ungeschriebenes“ Recht oder ein „Vernunftrecht“ („Naturrecht“) gibt, das allgemeine, humane Prinzipien von Billigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit beinhaltet. Solche allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit hat der Gesetzgeber z. B. in den genannten Normen der §§ 157 und 242 BGB zum Ausdruck gebracht.

      Dass beide Positionen jedoch nicht verabsolutiert werden sollten, zeigt das folgende, sehr anschauliche Beispiel des Sinneswandels von Gustav Radbruch, eines berühmten Rechtsphilosophen, Strafrechtlers und späteren Reichsjustizministers in der Weimarer Republik, der zunächst ein überzeugter Vertreter des Rechtspositivismus war, bevor er in Kenntnis der Auswirkungen der Barbareien der nationalsozialistischen Diktatur später Anhänger des Naturrechts geworden ist (vgl. Radbruch 1973, 175 f., 178, 328).

      Im Jahre 1932, also vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, hatte sich Radbruch „rechtspositivistisch“ wie folgt geäußert:

      „Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muss jemand festsetzen, was rechtens sein soll, und soll dann das gesetzte Recht der Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegen gesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtspruch zu beenden“ … „Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei… Auch wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er noch immer Diener der Rechtssicherheit.“ (175 ff.)

      Völlig anders äußerte sich Radbruch sodann im Jahre 1945, also nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und in Kenntnis dessen, was deutsche Juristen während der Zeit des Nationalsozialismus auf der Grundlage formal ordnungsgemäß zustande gekommener Rechtsnormen (auch) an Verbrechen begangen haben, wie folgt:

      „Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen, zum Beispiel Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen … Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind, als jede rechtliche Satzung, so dass ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht.“ (328)

      Heutzutage werden betreffend Rechtspositivismus und Naturrecht vermittelnde Positionen vertreten. Es wird davon ausgegangen, dass die vom Gesetzgeber des demokratischen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland beschlossenen Rechtsnormen grundsätzlich gerecht sind, dass sie jedoch in Ausnahmefällen auf der Grundlage von Generalklauseln ggf. relativiert oder eventuell sogar korrigiert werden müssen, wie dies auch in der Rechtsprechung immer wieder einmal geschieht (vgl. z. B. Fall 3: „Der Unterhaltsverzicht“ in Wabnitz 2014, 53, 172 f.).

      Schließlich gibt es neben Generalklauseln auch so genannte unbestimmte Rechtsbegriffe (dazu auch 11.3), die mitunter ebenfalls etwas despektierlich „Gummiparagrafen“ genannt werden. Mit ihnen wird seitens des Normgebers auf außerjuristische Sachverhalte verwiesen oder ebenfalls versucht, mit Blick auf eine nicht vorhersehbare Vielzahl von Einzelsachverhalten in der Rechtspraxis zu sachlich überzeugenden Ergebnissen zu kommen.

      Beispiel:

      Gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist“ und die Hilfe für seine Entwicklung „geeignet“ und „notwendig“ ist. Mit Hilfe dieser drei unbestimmten Rechtsbegriffe kann auf eine Vielzahl von Erziehungsdefiziten reagiert werden. Zugleich wird es möglich, die im Einzelfall passgenaue Hilfe auszuwählen, um das konkrete Erziehungsdefizit bei einem bestimmten Kind oder Jugendlichen zu beseitigen.

      Die verschiedenen Teilgebiete des Rechts werden in Deutschland traditionell entweder dem Zivilrecht (Privatrecht) oder dem Öffentlichen Recht zugeordnet. Diese Unterscheidung ist auch für die Soziale Arbeit von erheblicher Bedeutung und wird deshalb in der nächsten Übersicht erläutert, und zwar auf eine bewusst vereinfachende Art und Weise (Juristen haben hierzu zahlreiche „verfeinernde“ Theorien entwickelt).

      Übersicht 11

      Abgrenzung von Zivilrecht und Öffentlichem Recht

      1. Zivilrecht (Privatrecht): Auf beiden Seiten einer Rechtsbeziehung stehen sich Privatpersonen gegenüber.

      2. Öffentliches Recht: Auf mindestens einer Seite einer Rechtsbeziehung befindet sich der „Staat“ (als Träger unmittelbarer oder mittelbarer hoheitlicher Verwaltung; dazu Kap. 9.1).

      Das Zivilrecht (oder Privatrecht) regelt also die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander, und zwar sowohl zwischen natürlichen Personen als auch juristischen Personen des Privatrechts (dazu 4.1). Das öffentliche Recht hingegen regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat. Das öffentliche Recht regelt darüber hinaus auch die Organisation von Staat und Verwaltung und die Rechtsbeziehungen zwischen mehreren Trägern hoheitlicher Verwaltung untereinander, wenn z. B. mehrere Träger der öffentlichen Jugendhilfe gemeinsame Dienste einrichten oder zwei Gemeinden einen öffentlich-rechtlichen Vertrag über die gemeinsame Nutzung einer Kläranlage schließen.

      Die wichtigsten Rechtsgebiete des Zivilrechts sowie des Öffentlichen Rechts werden in der Übersicht 12 aufgezählt.

      Übersicht 12

      Rechtsgebiete des Zivilrechts und des Öffentlichen Rechts

      1.Zivilrecht (oder Privatrecht)

      1.1Bürgerliches Recht (BGB)

      1.1.1Allgemeiner Teil (Buch 1)

      1.1.2Schuldrecht (Buch 2)

      1.1.3Sachenrecht (Buch 3)

      1.1.4Familienrecht (Buch 4)

      1.1.5Erbrecht (Buch 5)

      1.2Sonstiges Privatrecht, Arbeits- und Wirtschaftsrecht

      1.2.1Arbeitsrecht

      1.2.2Handelsrecht

      1.2.3Gesellschaftsrecht

      1.2.4Banken-, Kredit-, Versicherungsvertragsrecht

      1.2.5Wettbewerbsrecht

      2.Öffentliches Recht

      2.1Völkerrecht, Recht der Europäischen Union

      2.2Staats- und Verfassungsrecht

      2.3Verwaltungsrecht

      2.3.1Allgemeines Verwaltungsrecht

      2.3.2Sozialrecht als besonderes Verwaltungsrecht

      2.3.3Steuerrecht als besonderes Verwaltungsrecht

      2.3.4Weitere Gebiete des besonderen Verwaltungsrechts