Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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gerade stark individualisierte Figuren wie Jane Marple (oder Hercule Poirot) bei Agatha ChristieChristie, Agatha oder der ebenfalls bereits erwähnte Hannibal Lecter, die im Gedächtnis bleiben und eine starke produktive Rezeption zeigen, vor allem im Film. So ist allein die Zahl der Verfilmungen mit Sherlock Holmes kaum mehr zu überschauen, das Spektrum reicht von den legendären Schwarzweiß-Verfilmungen (die erste aus dem Jahr 1939) mit Basil RathboneRathbone, Basil in der Hauptrolle über herausragende und mit der Figur frei umgehende Einzelproduktionen wie The Private Life of Sherlock HolmesThe Private Life of Sherlock Holmes (dt. Das Privatleben des Sherlock Holmes) von Star-Regisseur Billy WilderWilder, Billy aus dem Jahr 1970 über die sich um Werktreue bemühende BBC-Produktion Sherlock HolmesSherlock Holmes mit Jeremy BrettBrett, Jeremy in der Hauptrolle aus den Jahren 1984-1994 bis zu der besonders erfolgreichen, ebenfalls von der BBC produzierten Serie SherlockSherlock (seit 2010) mit den beiden zu Stars gewordenen Schauspielern Benedict CumberbatchCumberbatch, Benedict und Martin FreemanFreeman, Martin als Holmes und Dr. Watson.

      Wenn die starke Individualität der Figur und ihres Hauptdarstellers zusammenkommen, erlangen solche Filme auch Kult-Status. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Poirot-Verfilmungen mit Peter UstinovUstinov, Peter, etwa Death on the NileDeath on the Nile (dt. Tod auf dem Nil) von 1978; ebenso die vier Miss-Marple-Filme mit Margaret RutherfordRutherford, Margaret (unter der Regie von George PollockPollock, George) aus den Jahren 1961-64. Als eine Steigerung des Bekanntheitsgrades durch potenzierte Individualität könnte man noch zwei Verfilmungen von Agatha ChristiesChristie, Agatha Roman Murder on the Orient ExpressMurder on the Orient Express (dt. Mord im Orient-Express; 1934) ansehen, die ein kaum überbietbares Starensemble aufweisen. In der Verfilmung von Sidney LumetLumet, Sidney aus dem Jahr 1974 spielen u.a. Albert FinneyFinney, Albert (als Poirot), Lauren BacallBacall, Lauren, Ingrid BergmanBergman, Ingrid, Michael YorkYork, Michael, Jacqueline BissetBisset, Jacqueline, Richard WidmarkWidmark, Richard und Sean ConneryConnery, Sean. In Kenneth BranaghBranagh, Kenneths Verfilmung von 2017 sind es der Regisseur selbst, der ebenso ein berühmter Schauspieler ist (hier als Hercule Poirot), Penélope CruzCruz, Penélope, Willem DafoeDafoe, Willem, Judi DenchDench, Judi, Johnny DeppDepp, Johnny und Michelle PfeifferPfeiffer, Michelle.

      Im US-amerikanischen Typus des sogenannten ‚hardboiled detective‘ manifestiert sich eine maskuline Form der Individualität, die einen ‚homme fatal‘ mit Figuren der ‚femme fatale‘ zusammenbringt, wobei der Detektiv ein ‚lonely wolf‘ ist und bleibt. Anders gesagt: Die Detektiv-Figur ist einerseits betont männlich und andererseits einsam und in ihrer Persönlichkeit gebrochen. Sie begegnet immer wieder ebenso mondänen wie zwielichtigen Frauen, wobei solche Bekannt- und manchmal auch Liebschaften selten dauerhafte Folgen zeitigen. Der englische Typus – von Sherlock Holmes über Hercule Poirot bis Miss Marple – wirkt dagegen entsexualisiert. Die Figur scheint größtenteils ohne eine Partner- oder Liebschaft zurecht zu kommen und sich auch keine zu wünschen. Die relative Einsamkeit ist einerseits der weitergetriebenen Individualisierung geschuldet und andererseits der Dramaturgie einer Handlung, die sich auf Verbrechen und deren Aufklärung konzentriert.

      Neben anderen, noch zu diskutierenden Faktoren dürfte es gerade der hochgetriebene Individualisierungsgrad der Hauptfiguren sein, der viele Krimis für heutige Rezipient*innen so attraktiv macht. Der Krimi setzt der Suche nach Ordnung in einer unübersichtlich gewordenen Welt ein ‚role model‘ entgegen, das die Unwägbarkeiten, Fährnisse und Paradoxien der Moderne meistert oder zumindest aushält.

      Allerdings hat sich ein Bild des Krimis verfestigt, das quer zu der Entwicklung des Genres steht. Das Erbe der Aufklärung ins Zentrum rückend hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt festgestellt: „Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft“ (Brecht 1998, 33). Das trifft zu 100 Prozent allerdings nur auf triviale Beispiele des Genres zu. Selbst die Krimis, in denen die immer wieder gehandelten Prototypen auftreten, allen voran PoePoe, Edgar Allans Auguste Dupin und Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes, zeigen deutlich, dass es über die Aufklärung eines Verbrechens hinaus etwas gibt, das ebenso wenig zähmbar ist wie der Gorilla bei Poe oder der Hund der Baskervilles bei Doyle. Man kann es einfangen und bannen und vielleicht sogar töten, aber höchstens für die Dauer der Erzählung, über die hinaus es weiterwirkt.

      Helmut HeißenbüttelHeißenbüttel, Helmut hat auf diesen Kern bei Poe aufmerksam gemacht: „Der Täter ist ein Affe. In dieser extremen Polarisierung von Ratio und Unmenschlichkeit erscheint der Doppelmord in der Rue Morgue wie ein Programm, das in so reiner Ausprägung nie wieder eingeholt werden sollte“ (Heißenbüttel 1998, 111). Freilich gibt es in anderen Texten und auch in Filmen nicht weniger extreme Gegensätze, die nur anders angelegt sind und eigentlich Durchkreuzungen von gängigen Mustern darstellen. So ein Gegensatz findet sich beispielsweise in HoffmannHoffmann, E.T.A.s Figur Cardillac in Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi. Der Goldschmied ist allseits beliebt und geachtet, er ist ein Künstler par excellence – und zugleich ein Mörder von gleicher Perfektion. In Patrick SüskindSüskind, Patricks Das ParfumDas Parfum – Die Geschichte eines Mörders (1985) besteht der Gegensatz in der Geruchlosigkeit des Protagonisten einerseits und seiner besonderen Geruchswahrnehmung andererseits. In Robert HamersHamer, Robert Kind Hearts and CoronetsKind Hearts and Coronets (dt. Adel verpflichtet) von 1949 wird der Gegensatz zwischen dem eleganten Snobismus der Hauptfigur und der Brutalität ihrer Taten für die Erzeugung schwarzen Humors genutzt. Diese Reihe ließe sich noch lange fortsetzen.

      Zumindest für anspruchsvollere Krimis scheinen solche Gegensätze konstitutiv. Zu ihnen passt dann auch die fundamentale Erschütterung der gesamten Ordnung und die trotz allem bleibende Verunsicherung, auf die BrechtBrecht, Bertolt mit der folgenden Bemerkung anspielt: „Ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben werden als ein Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft sind kriminell“ (Brecht 1998, 35). Er ist auf dem richtigen Weg, wenn er der „Klarheit“, die „aber erst nach der Katastrophe“ kommt, so weit misstraut, dass er seine Überlegungen genau an der Stelle abbricht (Brecht 1998, 37).

      Die Faszination Brechts für den Krimi lässt sich vielleicht mit einem Wort Richard AlewynAlewyn, Richards besser erklären: „Im Detektivroman dagegen wird eben die dem Leser vertraute Welt verfremdet“ (Alewyn 1998, 69). Dafür werde erst einmal eine vertraute Welt erzeugt. So komme es zu einer „Fremdheitsrelation“, die „aus dem Kontrast zwischen einer Welt der brutalen Gewalttat und der domestizierten Umwelt des Lesers“ entstehe (ebd.). Die wahrgenommene Realität der Leser*innen, auf die der Krimi referiert, wird plötzlich doppelbödig, der Nervenkitzel hält Einzug mit der Frage, ob so etwas nicht jederzeit und überall passieren könnte; zugleich sagt aber die aus der Alltagsbeobachtung gewonnene Erfahrung, dass dies eine unbegründete Sorge ist. Der Krimi wäscht seinen Leser*innen den Pelz und macht sie nicht nass, er sorgt für Erregung und Anspannung im Modus des Möglichen und im sicheren Umfeld des Sessels oder Sofas.

      2.3 Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen

      Auf die durchgreifenden Veränderungen von einer relativ homogenen hierarchischen mittelalterlichen Ordnung zu einer arbeitsteilig organisierten ‚Disziplinargesellschaft‘ (FoucaultFoucault, Michel) wurde bereits hingewiesen. Der Prozess der zunehmenden Individualisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft führt zu einem „allgemeine[n] Druck übermäßiger Komplexität und Kontingenz, der zum Aufbau interner Strukturen der Selbstmotivation, Informationsverarbeitung und Lernfreiheit“ (Luhmann 2016, 30) führen kann, aber nicht muss, schließlich sind „fremde Perspektiven“ durch „Unzuverlässigkeit“ gekennzeichnet (ebd.). Niklas LuhmannLuhmann, Niklas stellt weiter fest: „Dem anderen Menschen wird nicht nur das erwartete Verhalten, sondern ineins damit auch die dazu passende Erwartungshaltung zugemutet. Der andere soll sich nicht nur komplementär verhalten, er soll auch komplementär erwarten“ (Luhmann 2016, 34).

      Die Entwicklung der (post-)modernen Gesellschaften hat folglich dazu geführt, dass Freiheit zunehmend als „eine zweischneidige Angelegenheit“ angesehen worden ist (Bauman 2003, 27). Dies betrifft auch das Rechtswesen: „Im Laufe des