Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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bereits in der Rahmenhandlung mit Mord und Totschlag ein. Ein genauerer Blick würde zeigen, dass hier zum Teil sehr andere Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit vorausgesetzt werden. Den Anfang des Zyklus von Tausendundeine Nacht etwa bildet Die Erzählung von König Schehrijar und seinem BruderDie Erzählung von König Schehrijar und seinem Bruder. Der gehörnte König Schehrijar nimmt, wie bereits sein Bruder vor ihm, blutige Rache an seiner Ehefrau – und nicht nur an ihr:

      Der aber ging in sein Schloß und schlug seiner Gemahlin und den Sklavinnen und Sklaven den Kopf ab. Und von nun an nahm König Schehrijar jede Nacht eine Jungfrau zu sich; der nahm er die Mädchenschaft, und dann tötete er sie, um seiner Ehre gewiß zu sein, und so trieb er es drei Jahre lang. Da geriet das Volk in Aufruhr und flüchtete mit den Töchtern, bis keine mannbare Jungfrau mehr in der Stadt war. (Zit. nach Neuhaus 2017c, 57)

      Bekanntlich ist es Schehrezad, die buchstäblich um ihr Leben (und das ihrer Schwester) erzählt und den König durch ihre Erzählungen nicht nur zu besänftigen, sondern zudem als Ehemann zu gewinnen weiß. Auch das Nibelungenlied, ein Epos (also ein Langgedicht), in mittelhochdeutscher Sprache tradiert, handelt von Mord und Totschlag, ebenso der Bänkelsang – Lieder, die von fahrenden Sängern etwa auf Märkten gegen Entgelt vorgetragen wurden und die grausame Geschehen farbenfroh ausmalten, von denen (es gab noch keine Zeitungen) die Zuhörer*innen annahmen, dass zumindest die zugrunde liegende Handlung in der Realität stattgefunden hatte.

      Wenn wir wieder zur Prosa wechseln und in der Hochliteratur bleiben, dann sind auch Franz KafkaKafka, Franzs Roman Der ProzeßDer Prozeß (1925) und seine Erzählung In der StrafkolonieIn der Strafkolonie (1919) zur Kriminalliteratur zu zählen, denn beide handeln von Verbrechen und ihrer Bestrafung – so unklar die Art der Verbrechen und die Motivation der Bestrafung auch sein mögen.

      Nun hilft es bei einer Genrebeschreibung wenig, alles zur Disposition zu stellen. Auch wenn man die Geschichte eines Genres neu schreiben möchte, sollte man von dem ausgehen, was man vorfindet. Aber für ein kritisches Verständnis jedes Genres ist es unabdingbar, zumindest zu überlegen, seit wann und weshalb sich jene Strukturen herauspräpariert haben, die es überhaupt erst ermöglichen, von einem Genre zu sprechen.

      Was wir unter Krimi verstehen oder unter einem der anderen gängigen Begriffe, ist ein Produkt vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, allerdings nicht erst des „späten 19. Jh.“ (Wörtche 2007, 342). Der Übergang vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, die Entstehung von Individualität und somit des modernen Subjekts (gefördert durch die Verbreitung von Bildung und Wohlstand), die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Entstehung einer Literaturgeschichtsschreibung sind Voraussetzungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

      Alle Gattungen der Moderne sind Produkte des 18.-20. Jahrhunderts. Selbst die aus der Antike stammenden Begriffe wie Tragödie und Komödie wurden immer wieder neu gefasst und an die jeweiligen theoretischen wie praktischen Referenzrahmen angepasst. Bestenfalls können historische Gattungen vergleichsweise genau beschrieben werden (etwa der Minnesang), weil es sie seit Beginn der Moderne nicht mehr gibt.

      Die seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert geänderte Literaturauffassung führt aber auch dazu, dass im Literaturbetrieb angesehene Texte immer etwas Neues bieten müssen, schließlich lassen sie sich – nach dem autonom-ästhetischen Paradigma von Literatur als Kunst – nur noch aus sich selbst heraus erklären (Luhmann 1997, z.B. 75). Hans-Dieter GelfertGelfert, Hans-Dieter bringt es in seiner Studie Was ist gute Literatur? auf die einfache Formel des ‚Prinzips der Abweichung‘: „Das heißt, das Kunstwerk muss uns mit etwas konfrontieren, das von der erwarteten Normalität abweicht“ (Gelfert 2006, 46).

      2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis

      Im Mittelpunkt eines Krimis stehen Verbrechen und der Versuch ihrer Aufklärung (natürlich kann es auch nur ein Verbrechen sein, oft sind es aber mehrere) mit Hilfe von Indizien. Auf die Genealogie und Bedeutung des Wortes Verbrechen weist etwa das Grimmsche Wörterbuch hin: „die alte sinnliche bedeutung zerstücken, verstümmeln ist in der schriftsprache nicht erhalten, sondern durch die zusammensetzung mit zer verdrängt; nur in den mundarten, in welchen die zusammensetzung mit zer unüblich ist“. Eingebürgert hat es sich, unter Verbrechen eine „rechtverletzende handlung, mit der nebenbedeutung der absichtlichen“, zu verstehen (Grimm 2019). Was jeweils unter einem Verbrechen als ‚rechtsverletzender Handlung‘ zu verstehen ist, hängt von den entsprechenden Gesetzen einer Zeit und in einer Gesellschaft ab und kann strittig sein, wie etwa die zahlreichen Krimis zeigen, die Gerichtsverhandlungen zum Gegenstand haben.

      Protagonist*innen der Handlung sind demnach vor allem Verbrecher- und Ermittlerfiguren, dazu kommen Helferfiguren auf beiden Seiten. Je nach Handlung können eher bereits geschehene oder zu erwartende Verbrechen im Mittelpunkt stehen. Oft wird zunächst die Vorgeschichte eines Verbrechens geschildert. Handlungen, Motive und Symbole dienen in dem Fall als Vorausdeutungen auf das kommende Geschehen und werden später Teil der Ermittlung. Spannung wird auch dadurch erzeugt, dass das Verbrechen einerseits motiviert, andererseits aber durch falsche Fährten (‚red herrings‘) und irreführende Hinweise in seiner Motivierung verunklart wird. Auf die Spitze getrieben wird die Konzentration auf Indizien- und Täter*innensuche mit dem ‚locked-room-mystery‘, mit dem Geheimnis des verschlossenen Raums (vgl. Alewyn 1998, 71), wie es sich in der als Muster des Genres angesehenen Erzählung Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans findet, The Murders in The Rue MorgueThe Murders in the Rue Morgue (1841).

      Die Voraussetzungen der Entwicklung eines solchen Genres im 18. Jahrhundert werden in der Regel mit Begriffen wie Aufklärung und dem bereits verwendeten Begriff Moderne bezeichnet und mit der Ablösung des christlichen Weltbildes durch das naturwissenschaftliche sowie mit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. So hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt mit Blick auf den Kriminalroman von der „Annäherung an den wissenschaftlichen Standpunkt“ gesprochen (Brecht 1998, 34). Im 18. Jahrhundert verändern sich die ursprünglich noch weitgehend verbindlichen, wenn auch (etwa durch Ereignisse wie den 30-jährigen Krieg) bereits erschütterten Eckpfeiler zentraleuropäischen Lebens, dies betrifft sowohl die Abhängigkeit des Individuums von religiösen wie weltlichen Rahmensetzungen. Die Stellung des Individuums innerhalb einer Ständepyramide, in die es hineingeboren wurde, hat weitgehend ausgedient. Das Bürgertum entsteht und mit ihm ein neues Konzept von Individualität, das durch eine auf gesellschaftlichen Fortschritt orientierte Bildung, für die Vernunft und Tugend zentrale Begriffe sind, nun als neues Paradigma die größtmögliche Freiheit des Individuums setzt.

      Nun erst kann ein Konzept „individueller Schuld“ (Luhmann 2016, 51) entstehen. Zugleich entfällt ein Anspruch auf ‚höhere‘ Gerechtigkeit, sofern die Individuen nicht weiterhin Religionen oder Ideologien vertrauen, auch wenn die Spuren solcher Konzepte bis in die normativen Ordnungen der Realität wie der Literatur weiterwirken. Die gewonnene individuelle Freiheit hat Folgen, die nicht immer absehbar sind: „Auch beste Absichten können üble Folgen haben und auch ein einwandfrei geführtes Leben kann miserabel enden“ (Luhmann 2016, 95).

      Es kommt in der Moderne zu einer „doppeldeutige[n] Konstellation“: Das Subjekt ist einerseits „dasjenige, das unterworfen ist, das bestimmten Regeln unterliegt und sich ihnen unterwirft“, und es wird andererseits „zu einer vorgeblich autonomen, selbstinteressierten, sich selbst verwirklichenden Instanz“ (Reckwitz 2010, 14). Das „hybride Subjekt“ (Reckwitz 2006) wird also krisenhaft geboren. Die neuen Gestaltungsspielräume implizieren Gefahren, gerade in einer nun immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft: „Diese immanenten Heterogenitäten und Fissuren machen die [post-]modernen Subjektformen instabil und lassen sie potentiell als mangelhaft erlebbar werden: die Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität“ (Reckwitz 2006, 19).

      In einer solchermaßen veränderten Welt wird das, was wir unter Verbrechen verstehen, daher überhaupt erst möglich. Die Polizei beispielsweise, wie wir sie kennen, ist ein