Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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Wenn Strubel, die selbst Schriftstellerin ist, die Lektüre des von ihr besprochenen Bandes mit Kriminalerzählungen von Håkan NesserNesser, Håkan als „Zeitverschwendung“ abtut (ebd.), dann wird offensichtlich, dass sie andere Maßstäbe an die Lektüre anlegt als jene nach Entspannung suchenden Rezipient*innen.

      Nicht zu vergessen ist, dass Krimis Waren sind. Es ist daher kein Zufall, dass sich etwa auch das Börsenblatt des deutschen Buchhandels mit der Frage der Krimi-Konjunktur beschäftigt hat. Michael Roesler-GraichenRoesler-Graichen, Michael nennt Zahlen aus dem Jahr 2011, an denen sich grundsätzlich wenig geändert haben dürfte:

      Spannungsliteratur hat Konjunktur: mehr als ein Viertel der gesamten Belletristikproduktion der deutschen Verlage sind Krimis, Thriller oder Mischformen, die auch Elemente aus Science-Fiction und Fantasy enthalten können. Die Tendenz ist insgesamt gleichbleibend, auch wenn es laut ‚Buch und Buchhandel in Zahlen‘ für das vergangene Jahr einen leichten prozentualen Rückgang zu verzeichnen gibt (2010: 27 Prozent; 2009: 28,3 Prozent). […] Während die Zahl der Novitäten auf hohem Niveau bleibt, wird das Spektrum der Krimireihen breiter und die Genredifferenzierung immer größer. Beispiele sind die neue Reihe Polaris von Rowohlt, die Internationalisierung des Regionalkrimis (Luxemburg, Bretagne, Mallorca etc.) und die immer ausgefallenere Spezialisierung (Wein-, Kaffeehaus-, Schrebergarten-, Wilhelm-Busch-, Gänse-Krimi). (Roesler-Graichen 2011)

      Es gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wenn sich Krimis nicht so gut verkaufen würden, gäbe es viel weniger davon. Die genannten Subgenres deuten an, dass Gewalt dabei nicht nur auf Menschen beschränkt bleibt. Zu den besonders originellen Beispielen gehören die millionenfach verkauften Schafskrimis (Glenkill. Ein SchafskrimiGlenkill. Ein Schafskrimi, 2005; Garou. Ein Schaf-ThrillerGarou. Ein Schaf-Thriller, 2010) und der Papageienkrimi (GrayGray, 2017) von Leonie SwannSwann, Leonie, einer in Dachau geborenen Autorin, die unter Pseudonym schreibt.

      Umso dringender gestaltet sich nach der Frage, was ein Krimi überhaupt ist oder sein kann, die Frage, welche Gratifikationen Krimis bereitstellen, um so erfolgreich sein zu können. Die in den letzten Jahrzehnten boomenden Regionalkrimis beispielsweise punkten mit ihrem Bezug zu einem Ort oder einer Landschaft, wobei das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Herkunftsregion ebenso eine Rolle spielen dürfte wie das nach lokalen Sensationen, auch wenn sie nur fiktiv sind. Besonders bekannte Orte und Landschaften bieten darüber hinaus Leser*innen Anknüpfungspunkte, die diese Gegenden vielleicht nur von Urlauben kennen. Allein die Topographie sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, vergleichbar etwa mit der früher so populären Heimatliteratur.

      Wenn nachfolgend bestimmte Erzähltexte, Filme und Serienfolgen ausgewählt werden und der Vorschlag gemacht wird, die Geschichte der modernen Kriminalliteratur bereits im 18. Jahrhundert und hier vor allem mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und Der GeisterseherDer Geisterseher zu beginnen, dann wird dies bei einem so populären und bekannten Genre vielleicht bei einigen zögerliche Zustimmung, bei anderen aber prinzipiellen Protest hervorrufen. Nun kann ein solches Büchlein – wie jede Publikation – nur ein Diskursbeitrag sein, der im besten Falle weitere Diskursbeiträge provoziert. Wenn diese Einführung Interesse genug wecken sollte, dass das für die Produktion und Rezeption von Literatur und Film zentrale Genre weniger stiefmütterlich behandelt wird, dann ist schon viel gewonnen.

      *****

      Mein Dank gebührt allen, die mit mir über das Thema diskutiert und mir Anregungen gegeben haben, dazu zählen Helga Arend, Renate Giacomuzzi, Klaus Kanzog, Nicole Mattern, Kirsten Reimers, Helmut Schmiedt und andere, die bitte nicht böse sind, wenn sie hier nicht namentlich genannt werden.

      Außerdem danke ich Kathrin Heyng von der Verlagsgruppe Narr Francke Attempto sehr herzlich für Ihre Unterstützung von Anfang an und für die wie stets umsichtige und freundliche Betreuung des Projekts.

       Fragen zu diesem Kapitel:

      Weshalb ist der Krimi ein so populäres Genre?

      Welches sind die wichtigsten Merkmale eines Krimis?

      Weshalb ist es ein Problem, die Geschichte des Genres mit Poes Erzählung über die Morde in der Rue Morgue beginnen zu lassen?

      Wie lässt sich der Krimi unterteilen?

      Weshalb sind Abgrenzungen zwischen Genrebezeichnungen mit Kriminalhandlung schwierig?

      Inwiefern ist die Bewertung von Kriminalerzählungen historisch und kulturell variabel?

      Welche Überschneidungen gibt es zu Drama und Lyrik?

      Welche Überschneidungen gibt es zu anderen Genres?

      2. Merkmale

      2.1 Was ist ein ‚Krimi‘?

      Es gibt, wie wir noch sehen werden, viele Genredefinitionen und verschiedene Begriffe, die hier unter ‚Krimi‘ als Oberbegriff zusammengefasst werden sollen. So finden sich etwa im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft unter der Überschrift „Kriminalroman“ Unterkategorien wie „Detektivgeschichte“ und „Thriller“ (Wörtche 2007, 342). Das Lemma ‚Kriminalroman‘ wurde gewählt, obwohl der Autor des Artikels zugesteht: „Einen konsensfähigen Begriff des Kriminalromans gibt es nicht“ (Wörtche 2007, 343). Das ältere Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte verwendet dagegen „Kriminalgeschichte“ als strukturbildenden Begriff und erläutert, es handele sich um „eine Sammelbezeichnung für erzählende Werke, in deren Mittelpunkt Verbrechen und Verbrecher und deren gerichtliche Verfolgung und Bestrafung stehen“ (Frenzel 1984, 895). Dieser Begriff kursiert immerhin bereits, wie Edgar MarschMarsch, Edgar gezeigt hat, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Marsch 1983, 7). Richard AlewynAlewyn, Richard stellt in seinem einflussreichen Beitrag zum Thema fest, „Krimi“ sei nur die „Koseform“ für „Kriminalroman“ und es komme oft zu einer Verwechslung mit dem „Detektivroman“, den er nun seinerseits in den Mittelpunkt rückt (Alewyn 1998, 52).

      Die einschlägigen Definitionen konzentrieren sich auf Prosa und vor allem auf den Roman. Was aber ist mit anderen Gattungen der Prosa (unabhängig von Dramen und Balladen, auf die hier nicht eingegangen werden kann), in denen Verbrechen geschildert werden, also beispielsweise mit Märchen? Volker LadenthinLadenthin, Volker hat, mit jedem Recht, eine Anthologie der „Märchen von Mördern und Meisterdieben“ erstellt (Ladenthin 1992) – wären das keine Krimis? Und wie ist es mit jenen Texten, die das Verbrechen, aber nicht die polizeiliche oder gerichtliche Verfolgung schildern und in denen vielleicht sogar keine Bestraftung des Täters erfolgt? Das ältere Reallexikon sieht die vorgestellte Genredefinition der Kriminalgeschichte jedenfalls als „weitmaschig“ an (Frenzel 1984, 895).

      Peter NusserNusser, Peter wählt für seine grundlegende Einführung zunächst eine Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur (Nusser 2009, 1). Wenn die Verbrechensliteratur „nach den Motivationen des Verbrechers“ fragt und die Kriminalliteratur die „Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind“, in den Mittelpunkt stellt (ebd.), dann wird man bei der Suche nach Beispielen feststellen, dass sich auch die Kriminalliteratur in der Regel für die „Motivationen des Verbrechers“ interessiert, eben um ihm auf die Spur zu kommen. Wie würde man beispielsweise eine der erfolgreichsten Krimiserien aller Zeiten einordnen – ColumboColumbo mit Peter FalkFalk, Peter. Die legendäre US-amerikanische Serie wurde in den USA von 1968 bis 1978 und dann wieder von 1989 bis 2003 in insgesamt 69 spielfilmlangen Folgen ausgestrahlt. Als Vorbild für die Filmfigur gilt eine literarische Figur: der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aus Fjodor DostojewskijsDostojewskij, Fjodor Michailowitschs Roman Schuld und SühneSchuld und Sühne (1866).

      Lieutenant (Inspektor) Columbo, der für die Mordkommission des Los Angeles Police Department arbeitet, wird in jeder Folge mit einem Mordfall konfrontiert, bei dem ihm sehr bald klar wird, wer der Täter ist. Seine Aufgabe ist es nun, die Tat auch zu beweisen – dafür beschäftigt er sich intensiv mit dem Motiv des Täters und dem Hintergrund der Tat.