Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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zur Wahrheit [den die Naturwissenschaften scheinbar kultivieren und so die Aufklärung vorantreiben] stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis; er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird. (Foucault 2000, 15)

      Michel FoucaultFoucault, Michel hat eine Geschichte des ‚Überwachens und Strafens‘ geschrieben (Foucault 1994). Im Mittelalter war ein Verbrechen das, was als Handlung nicht nur jemanden individuell oder eine Gruppe schädigte, sondern durch den Verstoß gegen die als göttlich angesehene Ordnung und ihre Vertreter direkt Gott beleidigte: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer hinaus den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist“ (Foucault 1994, 63). Und der hat seine Legitimation von Gott.

      So erklärt sich die „peinliche Strafe“ (Foucault 1994, 46) als „Teil eines Rituals“ (Foucault 1994, 47), mit dem es, als Teil der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, auch „um die Rettung der Seele“ ging (Foucault 1994, 61). Deshalb sind die Verfahren damals andere als heute. Bereits ein Verdacht konnte eine aus heutiger Sicht unheimliche Evidenz haben: „Die Beweisführung bei Gericht gehorchte also nicht dem dualistischen System wahr/falsch, sondern einem Prinzip der stetigen Abstufung: eine bestimmte Stufe der Beweisführung bildete bereits eine Schuldstufe und hatte darum eine bestimmte Strafstufe zur Folge“ (Foucault 1994, 57).

      Mit der Aufklärung entsteht ein individualitätsbasiertes Konzept von Humanität, das auch dazu führt, dass das frühere Strafsystem nicht mehr ‚verstanden‘ wird. Foucault stellt wohl auch deshalb etwas ironisch fest, dass „man die Strafen, die sich ihrer ‚Gräßlichkeit‘ nicht schämten, durch solche“ ersetzte, „die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ rühmten“ (Foucault 1994, 75). Oder noch schärfer: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1994, 285). Es lassen sich also nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten feststellen, ebenso in der Tradierung religiöser Muster. Im deutschsprachigen Raum wirkt das christliche Weltbild sogar in der feudalen politischen Ordnung weiter. Noch 1813 ist „Mit Gott für König und Vaterland“ die Devise des von Friedrich Wilhelm III. von Preußen gestifteten Landwehrkreuzes.

      Dennoch verändert sich die Machtverteilung immer mehr von der horizontalen auf die vertikale Ebene. Um unter solchen Umständen noch eine funktionierende Gesellschaftsordnung gewährleisten zu können, muss ein immer ausgeklügelteres System implementiert werden, in dessen Zentrum die Selbstdisziplinierung des Subjekts oder Individuums steht. FoucaultFoucault, Michel nennt dies „eine neue ‚politische Ökonomie‘ der Strafgewalt“ (Foucault 1994, 103). Zum Modell wird das von Jeremy BenthamBentham, Jeremy erdachte Panoptikum, das „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen“ zur Folge hat (Foucault 1994, 258). Die Gefängniszellen sind kreisförmig um einen Turm herum organisiert, aus dem heraus in die Zellen gesehen werden kann – aber nicht umgekehrt. Die Strafgefangenen können also nie sicher sein, wann sie überwacht werden. Das Panoptikum wird zum Modell der neuen, individualisierten Gesellschaft:

      Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. (Foucault 1994, 260)

      Das Panoptikum wird zum „Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“, denn es „kann sich wirklich in jede Funktion integrieren (Erziehung, Heilung, Produktion, Bestrafung)“ (Foucault 1994, 265). In einer solchen „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1994, 269) gibt es erstens keinen „Raum des Privaten“ (Hamann 2016, 29), der es erlauben würde, eine Grenze zum Politischen zu ziehen, und zweitens sind auch Krimis Teil der Ökonomie der Selbstdisziplinierung, etwa indem sie den Leser*innen vor Augen führen, welche Konsequenzen bei Straftaten drohen, oder indem sie ihnen ein Ventil bieten, Figuren ihre Aggressionen stellvertretend ausleben zu lassen, also ihre Impulskontrolle in der Realität stärken. Als problematisch werden daher immer wieder Produktionen gesehen, denen etwa das Potenzial zugeschrieben wird, gewaltstimulierend zu wirken – dies wäre der gegenteilige Effekt. Andererseits zeichnet es gerade die im Kulturbetrieb besonders wertgeschätzten Krimis aus, dass sie Aspekte der Disziplinargesellschaft für die Leser*innen transparent machen und so dabei helfen, die skizzierten Mechanismen kritisch zu hinterfragen, sofern sie einer ‚Unterwerfung‘ des Subjekts dienen.

      Ein Beispiel für eine relativ einfache, auf der Ebene der histoire angesiedelte Kritik wären Krimis, die Missstände in Gefängnissen thematisieren; eine ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts erst in der Form entstehende Einrichtung, der bereits FoucaultFoucault, Michel ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt: „Das Gefängnis kann gar nicht anders, als Delinquenten zu fabrizieren“ (Foucault 1994, 342). Er sensibilisiert insbesondere für den Effekt der neuen und ‚modernen‘ Strafordnung, tendenziell bereits „die Abweichung von einer Regel, einem Durchschnitt, einer Anforderung, einer Norm“ als möglicherweise bestrafenswert anzusehen (Foucault 1994, 386). Eine Frage bei der Interpretation und Bewertung von Krimis wird es daher sein, ob sie an der „Fabrikation des Disziplinarindividuums“ (Foucault 1994, 397) mitwirken oder in einer über Immanuel KantKant, Immanuel, Friedrich SchillerSchiller, Friedrich und Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von geprägten aufklärerischen Tradition helfen, Normen und normative Verfestigungen in der Gesellschaft immer wieder neu zu überprüfen. Gerade dafür erscheint die Kunst im Sinne LuhmannLuhmann, Niklass (s.o.) – hier verstanden als Literatur, Film und Serie – als besonders geeignet.

      Es wird zudem an konkreten Beispielen zu zeigen sein, was es heißt, wenn FoucaultFoucault, Michel feststellt: „Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen“, wenn er weiter von einer „politische[n] Besetzung des Körpers“ spricht (Foucault 1994, 37) und von einer „Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird“ (Foucault 1994, 38), hinter denen freilich machtvolle Subjekte stehen oder in denen solche machtvollen Subjekte agieren. Auch der Krimi legt, oft in drastischer Zuspitzung, Zeugnis ab von der „Technologie der Macht über den Körper“ (Foucault 1994, 41). Dies kann mehr oder weniger differenziert ausfallen, wobei etwa die Kritik an der Arbeitsweise der Ordnungsmächte Polizei und Justiz durch vielfache Wiederholung und geringe Variation von Mustern teilweise zu Klischees geronnen ist.

      Wenn Ende des 19. Jahrhunderts Sherlock Holmes die Arbeit der Polizei in den Schatten stellt und Inspektor Lestrade von Scotland Yard Fälle nicht ohne ihn lösen kann, mag diese Art von Kritik noch innovativ gewesen sein. In trivialen Romanen oder gängigen Film- und Fernsehproduktionen wie den Verfilmungen nach Agatha ChristieChristie, Agathas Romanen um die Hobbydetektivin Miss Marple unter dem Titel Agatha Christie’s MarpleAgatha Christie’s Marple (2004-2013) wird freilich vorrangig das Bedürfnis der Zuschauer*innen bedient, sich zur Stärkung des eigenen Egos mit Alltagsfiguren identifizieren und über Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung den Kopf schütteln oder lachen zu können. Auf der anderen Seite steht das gängige Sehgewohnheiten verunsichernde Verhalten von Täterfiguren, die zur Identifikation einladen – wie im Fall des intellektuellen Kannibalen Hannibal Lecter, gespielt von Anthony HopkinsHopkins, Anthony, in The Silence of the LambsThe Silence of the Lambs (dt. Das Schweigen der Lämmer von 1991; Regie: Jonathan DemmeDemme, Jonathan).

      Wie sehr Aufklärung und Individualisierung im Mittelpunkt der sich zeitgleich mit der Moderne entwickelnden Gattung stehen, zeigt die Konzentration auf das Individuelle des Täters und seiner Tat, ebenso des Ermittlers und seiner Methoden. Nicht zufällig erinnert man bestimmte Einzelfiguren, die im Fall von Sherlock Holmes gattungsprägende Funktion haben. Ermittler wie Täter sind oft radikale Individualisten, die – als zwei Seiten einer Medaille, man denke an Holmes’ Antagonisten James Moriarty – das