Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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(mindestens) eine eigene Einführung geschrieben werden. Sie sind außerordentlich populär und auch wenn sie seit der Etablierung von Streaming-Kanälen in den 2010er Jahren noch einmal mehr zu boomen scheinen, so haben sie schon viel früher ein breites Publikum angezogen. Dies betrifft sowohl Miniserien wie scheinbar endlose Fortsetzungen in Staffeln mit zahlreichen Folgen, etwa von 1972-77 die erfolgreichen The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco (Die Straßen von San Francisco) mit 120 Folgen in fünf Staffeln; durch sie wurde Michael DouglasDouglas, Michael zum Star. Auch Beispiele aus Deutschland ließen sich hier nennen, so wurden von Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in den Jahren 1968-75 immerhin 97 Folgen produziert. Der internationale Verkaufsschlager DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle brachte es sogar von 1974-98 auf 281 Folgen in 25 Staffeln. Die österreichische Serie Kottan ermitteltKottan ermittelt, die von 1976-84 in sechs Staffeln auf 19 Folgen kam, gilt als eine der besten deutschsprachigen Genreparodien.

      Nur angesprochen werden kann, dass es wichtige Überschneidungen zu anderen Genres und Gattungen gibt, etwa zum Drama und zur Lyrik. Das Spektrum reicht von hochkanonisierten Texten wie Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Gerichtsdrama und Komödie Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1828) oder populären Gerichtsdramen wie HokuspokusHokuspokus von Curt GoetzGoetz, Curt (Urfassung 1828) mit den entsprechenden Verfilmungen bis hin zu Kriminalhandlungen auf der Bühne wie in dem wohl größten Bühnenerfolg aller Zeiten, Agatha ChristiesChristie, Agatha Mouse TrapMouse Trap (dt. Die Mausefalle), ein Stück, das seit dem Uraufführungsjahr 1952 bis zur durch das Corona-Virus bedingten Schließung der Theater 2020 täglich im Londoner West-End aufgeführt wurde. Auch in der Ballade finden sich oft Kriminalhandlungen. In Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Die Kraniche des IbykusDie Kraniche des Ibykus (1797) beispielsweise geht es um die Ermordung des Dichters Ibykus (Ibykos) durch Räuber, die sich später selbst entlarven. Frank WedekindWedekind, Franks satirisches Gedicht Der TantenmörderDer Tantenmörder (1902) handelt von einem jungen Mann, der sich für den Mord an seiner Tante aus Habgier vor einem Gericht rechtfertigt, und in Erich KästnerKästner, Erichs Die Ballade vom NachahmungstriebDie Ballade vom Nachahmungstrieb (1931/32) wird aus Spiel Ernst, wenn ein Kind von anderen verurteilt und hingerichtet wird.

      Texte wie die beiden letztgenannten stehen in der Tradition der Moritat, einer Variante des Bänkelsangs, die vor allem im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit von fahrenden Sängern gepflegt wurde. Bertolt BrechtBrecht, Bertolts DreigroschenopeDreigroschenoperr (1928) handelt nicht nur von Verbrechern und ihren Untaten; aus dem Drama stammt auch die berühmte Moritat von Mackie MesserMoritat von Mackie Messer, die von zahlreichen berühmten Sänger*innen adaptiert wurde (Louis ArmstrongArmstrong, Louis, Hildegard KnefKnef, Hildegard, Frank SinatraSinatra, Frank, Eartha KittKitt, Eartha, Robbie WilliamsWilliams, Robbie u.v.m.).

      Auch innerhalb der fiktionalen Prosa-Literatur gibt es zahlreiche Überschneidungen, als Beispiel sei nur auf das Horror-Genre hingewiesen. Horrorerzählungen und -filme haben in der Regel mit Straftaten zu tun, so handelt Stephen KingKing, Stephens Roman ItIt (dt. Es) von 1986, ebenso wie seine nicht weniger populären Verfilmungen, von einem als Clown auftretenden Monster, das Kinder ermordet. Der sage und schreibe bereits 22. Roman des Autors hat zugleich Fantasy-Elemente; anders als andere Horrorproduktionen wie etwa, um ein Filmbeispiel zu nennen, Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds PsychoPsycho von 1960. Darin geht es eigentlich um einen jungen Mann, der aus einem ödipalen Persönlichkeitskonflikt zum Mörder wird. Komödien wie Hot FuzzHot Fuzz (2007; Regie Edgar WrightWright, Edgar) arbeiten mit Krimi-, Thriller- und Horrorelementen.

      Die Konzentration auf Prosaliteratur und Film (Spielfilme, Serien) und auf einige wenige Merkmale, die sich vor allem an der ‚Profession‘ – Ermittler oder Täter – der im Mittelpunkt stehenden Figur(en) orientieren, soll nicht als einziges, sondern als ein mögliches Raster verstanden werden, um die Hybridität und die Breite der Produktionen exemplarisch besser darstellen zu können. Die Notwendigkeit zu weiteren Beschränkungen liegt in der Natur der Sache einer solchen Einführung, etwa die Konzentration auf Texte der fiktionalen Literatur, auf fiktionale Filme und Serien fast ausschließlich deutsch- oder englischsprachiger Produktion. Eine Abgrenzung zu (halb-)dokumentarischen Formaten (etwa Aktenzeichen XY ungelöstAktenzeichen XY ungelöst oder den CSICSI-Serien) kann ebenso wenig erfolgen wie eine grundlegende Diskussion darüber, was unter Film oder Serie zu verstehen ist. Als Film wird hier der Regelfall des Spiel- oder Fernsehfilms gesehen mit seiner durchschnittlichen Länge von 90 Minuten; unter Serie wird alles verstanden von der abgeschlossenen Miniserie bis zu über viele Staffeln gehenden Serienformaten mit mehr oder weniger abgeschlossenen Handlungen je Episode oder Staffel.

      Ein hier nur kurz zu erwähnendes Problem ist die Übersetzung oder Synchronisation von Kriminalerzählungen. Wohl wegen der vermuteten Trivialität des Genres lassen sich selbst bei den bekanntesten Werken Eingriffe beobachten, die philologisch nicht zu rechtfertigen sind. So stellt Monika Gripenberg zu einer Übersetzung von Agatha ChristieChristie, Agathas The Murder of Roger AckroydThe Murder of Roger Ackroyd (1926; dt. üblicherweise Alibi) fest, dass in „der deutschen Ausgabe des Romans“ eine „etwa vier Seiten lange Konversation einfach weggelassen“ wurde, und fügt hinzu: „[…] bei den deutschen Ausgaben Agatha Christies scheint es leider ein gebräuchliches Vorgehen zu sein, alles zu streichen, was nicht zum unmittelbaren Verständnis der Handlung notwendig ist“ (Gripenberg 2005, 52f.). Yaak KarsunkeKarsunke, Yaak hat vergleichbare Verstümmelungen an den Übersetzungen der Romane Raymond ChandlerChandler, Raymonds beobachtet (Karsunke 1978, 118). Bei englischsprachigen Texten und Filmen wird daher stets auf das Original zurückgegriffen.

      1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen

      Lesezeit ist Lebenszeit, auch wenn sie nicht gewaltsam verkürzt wird. Von solchen gewaltsamen Verkürzungen handelt dieser Band Gott sei Dank nur in Theorie und Fiktion. Gibt es in der Realität überhaupt Fälle, in denen Bücher getötet haben? Umberto EcoEco, Umbertos Roman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) schildert einen solchen Fall, dort ist es bekanntlich ein an den Seiten vergiftetes Buch, das lesehungrige Mönche ihr Leben kostet. Der im Mittelalter spielende Kriminalfall – die augenzwinkernden Verweise auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Figuren Sherlock Holmes und Doktor Watson sind offensichtlich – würde auch in die Reihe der zu behandelnden Bücher gehören, wenn genug Raum für alles wäre, was wichtig ist. Ebenso die Verfilmung von 1986, eine der überzeugenderen Literaturverfilmungen mit deutscher Beteiligung. Regie führte Jean-Jacques AnnaudAnnaud, Jean-Jacques und die Hauptrolle spielte Ex-James-BondJames Bond Sean ConneryConnery, Sean. Das Beispiel zeigt, dass Tragik und Komik nah beieinander liegen: AristotelesAristoteles’ Buch über die Komödie ist es, das als verschollen gilt und aus dem die Mönche ihre verbotenen Lesefrüchte kosten. Dass das Buch mit der Bibliothek des Klosters verbrennt, ist ein wunderbarer Roman- und Film-Trick. So liefert Eco eine fiktionale Erklärung für das faktuale Fehlen eines der (vermutlich) einst realen Bücher, die grundlegend für unsere Kultur waren oder gewesen wären.

      Ecos metafiktionaler Roman zeigt deutlich: Fiktionen modellieren mögliche Wirklichkeiten. Es wird zu diskutieren sein, wie sie dies tun und weshalb. „Nichts entspannt so sehr wie Mord und Totschlag“, titelte der Tagesspiegel (Huber 2016). Die besondere Konjunktur des Genres erklärt Joachim HuberHuber, Joachim wie folgt:

      Das Publikum sucht über die Klammer aus Verbrechen und Entertainment ja seiner Alltagserschlaffung zu entkommen. Alltag, das ist zwar die gemeinhin gewollte Lebensform, gerne abgesichert über ein Kordon aus Versicherungen gegen das Nicht-Alltägliche, aber dieser Alltag hat eben seinen sehr niedrigen Thrill-Horizont. Da kommt der Fernsehkrimi gerade recht: Teilhabe und Teilnahme an fremder Gefahr bis hin zum Mord, das Schlimmste, was passieren kann, sind Schweißausbruch und Angst vorm Gang in den Keller. Spannung wird Entspannung, Entspannung wird Spannung, das klingt nach Paradox und ist doch nur die Klammer, die Krimi und Krimifan umfasst. (ebd.)

      Antje StrubelStrubel, Antje kommt im Deutschlandfunk zu einem etwas anderen Befund: „Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf steigende