Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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macht die, wenn auch in jüngerer Zeit monierte (z.B. Beck 2014, 33), Brüchigkeit der Argumentation nicht plausibler. So beginnt Richard Bradfords außerordentlich kundige Einführung in das Genre mit dem Hinweis auf Vorläufer wie SophoklesSophokles’ König ÖdipusKönig Ödipus, HerodotHerodots Rhampsinit und der MeisterdiebRhampsinit und der Meisterdieb oder ShakespeareShakespeare, Williams HamletHamlet (Bradford 2015, 1), wobei es sich hier auch um Dramen handelt.

      Reclams Kriminalromanführer verortet „die anscheinend erste Detektivgeschichte der Weltliteratur“ 1679 in China und spart die englische gothic novel des 18. Jahrhunderts nicht aus (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 43). In einer Liste der ‚hundert lesenswerten Krimis‘ kommen allerdings weder Schillers noch HoffmannHoffmann, E.T.A.s Erzählungen vor, ebenso fehlt FontaneFontane, Theodors Unterm BirnbaumUnterm Birnbaum. Dafür finden sich ganze neun Titel von Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthur, aber nur zwei von Agatha ChristieChristie, Agatha (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 403ff.), die (wie eingangs festgestellt) mehr Kriminalromane verkauft hat als jede*r andere Krimiautor*in. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: Jede Auswahl in einer Einführung kann nur eine sehr subjektive sein.

      Bradford erwähnt SchillerSchiller, Friedrichs Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi (Bradford 2015, 70f.), er betont sogar die wegweisenden Merkmale einer Psychologie des Verbrechens einerseits und der Entstehung der Figur einer Amateurdetektivin andererseits. Dennoch ist für ihn Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Figur Auguste Dupin der Prototyp des Detektivs, er ist sogar ‚Patriarch einer Nachkommenschaft von Holmes, Poirot, Miss Marple, Maigret‘ und den anderen bekannten Detektivfiguren (Bradford 2015, 7), und dies lediglich aufgrund eines Merkmals – der schlüssigen, auf Logik basierenden Detektion.

      Dieses Merkmal wird aber nur für die schematisch ablaufenden Detektiverzählungen gelten. Es wird zu einem Merkmal trivialer Literatur. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi konterkariert es bereits, bevor es entsteht, und dies nicht zufällig als Reaktion auf die Defizite des Rationalismus der Aufklärung. Auch spätere Autoren wie Wolf HaasHaas, Wolf mit seiner Figur des Detektivs Simon Brenner werden sich nicht daran halten. Sogar PoePoe, Edgar Allans Erzählung bekommt durch die Figur des Täters – einen Affen – eine sehr untypische Note (Bradford 2015, 9).

      Wie konnte es so weit kommen, weitgehend unwidersprochen PoePoe, Edgar Allan zum „,father‘ of the detective genre“ (Scaggs 2005, 7) zu erklären und ihn als Vater der rationalistischen Kriminalerzählung zu feiern? Auch darüber gibt Bradfords Einführung Auskunft, wenn er auf den Systematisierungsversuch von Tzvetan TodorovTodorov, Tzvetan verweist (die von 1966 stammende Typologie des Kriminalromans ist auch abgedruckt in Vogt 1998, 208-215). Doch bereits mit der Feststellung „Der Kriminalroman hat seine Normen“ und mit der Zuordnung des Krimis zur „Massenliteratur“ (ebd., S. 209) markiert Todorov deutlich, dass er eine bestimmte Ausprägung dessen meint, was allgemein in der Literaturwissenschaft unter Krimi verstanden wird.

      Einige Systematisierungsversuche – Todorovs zählt zu den besonders populär gewordenen – haben das Bild eines Genres gezeichnet, das bei näherem Hinsehen deutlich an Kontur verliert. Einige wichtige Ansätze für mögliche Weiterungen gibt es bereits, etwa den Versuch, eine Geschichte der „Kriminalfallgeschichten“ an Beispielen aus den letzten vier Jahrhunderten zu schreiben (Košenina 2014). Mit der vorliegenden Einführung soll nun ein weiterer Versuch einer solchen Ausweitung des Blicks gewagt werden, und das hoffentlich, ohne den Fokus zu verlieren.

      1.2 Vorgehensweise

      Die bisherigen Versuche der Genrebeschreibung zeigen, dass man der heterogenen Thematisierung von Verbrechen in der fiktionalen Prosa-Literatur (auf die sich so gut wie alle Genrebeschreibungen beschränken) eine Systematik aufgezwungen hat, die deutliche Limitierungen hat und nur funktioniert, wenn man sich auf einige wenige stereotype Merkmale konzentriert – die dann vor allem zu Merkmalen trivialer Literatur über Verbrechen werden. Von prototypischen, bereits in den Anfängen hybriden Beispielen ausgehend soll daher überlegt werden, welche Themen und Merkmale jeweils welche Geltung beanspruchen, um so zu einer stärker auf die literarische und filmische Praxis bezogenen Beschreibung des Genres zu gelangen.

      Dabei wird die Frage nicht unwichtig sein, welche Krimis aus welchen Gründen zu den herausragenden Beispielen ihres Genres gezählt werden können. Um beurteilen zu können, ob ein Text, ein Film oder eine Serie als besonders gelungen angesehen werden kann, sind aber zunächst die genrespezifischen Merkmale zu ermitteln: Welche Diskurse von Gerechtigkeit werden so präsentiert, dass sie beispielsweise als (sozialgeschichtlich bzw. gegenwärtig) relevant angesehen werden können? Wie ist das Verhältnis der außertextuellen Auffassung von Gerechtigkeit und der poetischen Gerechtigkeit des Texts? Welche Rolle spielen Emotionen textintern wie textextern, also einerseits für das Verhalten der Figuren und andererseits für die Rezeptionssituation? In welcher Weise und aus welchen Gründen werden bestimmte Figuren oder Handlungen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ markiert?

      Ob es sich bei Krimis um – nach einer Unterscheidung des Soziologen Niklas LuhmannLuhmann, Niklas – Kitsch, Kunsthandwerk oder Kunst handelt (Luhmann 1997, 300ff.), lässt sich so zwar ermitteln, aber natürlich nicht verbindlich festschreiben. Erstens sind die Kriterien der Beurteilung historisch und kulturell variabel und zweitens ist es jeder und jedem selbst überlassen, was sie oder er aus welchen Gründen rezipiert. Allerdings kann es niemandem, die oder der sich für das Genre interessiert, schaden, sich darüber zu informieren, welche besonderen Qualitäten Krimis aus Sicht einer fachwissenschaftlichen Beurteilung haben oder eben nicht haben. Immerhin sind Bücher geistige Nahrung und der Nahrungsaufnahme sollte zumindest eine Einschätzung der Qualität des Essens und vielleicht sogar seiner Risiken und Nebenwirkungen vorausgehen. Ein wichtiges Ziel dieser Einführung ist es daher auch, den professionelleren Blick auf Krimis zu schulen, so dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches besser dazu in der Lage sind zu entscheiden, welche Krimis sich für sie persönlich lohnen – zur Unterhaltung wie zur Vermittlung etwa in der Schule.

      Bei aller Kritik an der bisherigen Systematik wird es schwierig sein, aus dem Stand eine neue Systematik zu entwickeln, die geeigneter ist als die alte, erst recht in einer Einführung. Daher soll die Grobstruktur die bisher üblichen Begriffe zwar zum Teil übernehmen, es soll in der Argumentation aber auch immer diskutiert werden, welche Limitierungen die Einordnung der jeweiligen Beispiele in eine solche ‚Schublade‘ hat.

      Der Begriff der ‚Erzählung‘ soll nicht nur literarische Texte, sondern auch Filme und Serienfolgen umfassen. Die Kriminalerzählungen sind die allgemeinste Kategorie – also ohne eines der Merkmale, die für die folgenden Kategoriebildungen zentral sind (und wohl am nächsten an der oft so genannten ‚Verbrechensliteratur‘). In den Detektiverzählungen steht, wenig überraschend, eine Detektivfigur im Mittelpunkt, allerdings kann dies ein Polizei- oder ein Privatdetektiv sein – oder beides. Oftmals werden dann beide, Privatdetektiv und Polizist, als antagonistische Ermittlerfiguren eingeführt – man denke an Inspector Lestrade in den Sherlock-Holmes-Erzählungen und deren Adaptionen. Es gibt aber auch genügend Beispiele für Helferfiguren – so hat Detektiv Jim Rockford in den Rockford FilesRockford Files (Detektiv Rockford – Anruf genügt), 1974-80 gespielt von James GarnerGarner, James, einen Freund bei der Polizei. Ebenfalls kann ein Anwalt oder ein Richter oder ein Gerichtsmediziner Ermittler*in sein – solche Sonderfälle können hier nur erwähnt werden.

      Thriller ist zu einem Sammelbegriff geworden für alle Erzählungen, die vorrangig auf Handlungsspannung setzen – daher werden Eingrenzungen unvermeidlich sein. Auf den Sonderfall Spionageerzählungen soll an dem prototypischen Beispiel James BondJames Bond kurz eingegangen werden. Spione sind im Auftrag von Regierungen international handelnde Figuren, die Verbrechen aufzuklären oder zu verhindern suchen oder auch selbst begehen. Komödien und Parodien nutzen Merkmale der genannten Subgenres, auch hier ist das Spektrum viel größer, als dies zu zeigen möglich sein wird. Es reicht von mit Humor erzählten Krimis über Genreparodien bis hin zu satirisch-kritischen