Diese neoliberalismuskritische Darstellung des Selbstoptimierungsstrebens als einverleibter Fremd-Zwang ist allerdings genauso einseitig und tendenziös wie die radikale Autonomiethese. Die skizzierten neuzeitlichen Emanzipations- und IndividualisierungsbestrebungenIndividualisierungsprozesse lassen sich schwerlich auf eine reaktive Anpassung an wirtschaftliche Anforderungen reduzieren, weil sich die Menschen vom Kampf um mehr Freiheit und ein individualisiertes Glücksstreben vielmehr eine Steigerung der Lebensqualität erhofften. Die „Verschmelzung“ steigender individueller Ansprüche und marktrelevanter Forderungen ist also viel komplexer und konzeptuell schwer zu fassen (vgl. KingKing, Vera u.a., 286). Auch gibt es in der gegenwärtigen Optimierungsgesellschaft durchaus positive Muster der Lebensführung, bei denen eine begeisterte Bejahung der zahllosen Möglichkeiten des Optimierens mit angemessener Selbst- und Fremdsorge einhergehen (vgl. Salfeld u.a., 10/UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 34). Menschen scheitern offenkundig nur, wenn bestimmte ungünstige psychische Startbedingungen wie niedriges Selbstbewusstsein und mangelnde Zuwendung in Primärbeziehungen und unerfüllbare äußere berufliche Anforderungen oder unsichere Arbeitsverhältnisse aufeinandertreffen (vgl. ebd., 32; 44/KingKing, Vera u.a., 287). Sie zerbrechen dann aber nicht am generalisierten Zwang zur permanenten Selbstoptimierung, sondern an Überlastung z.B. infolge von ArbeitsverdichtungArbeitsverdichtung, unrealistischen Arbeitserwartungen oder entgrenzter Arbeitszeit, prekärer befristeter Arbeitsverhältnisse, Doppelbelastung durch Beruf und Familie etc. Folgerichtig müsste sich die Kritik auch gegen solche ganz konkreten Missstände richten. Da nur unter bestimmten problematischen Bedingungen der Appell zur Selbstoptimierung negativ als Zwang und nicht positiv als Motivationsschub erlebt wird, gibt es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Optimierungs- und Leistungsdruck und Erschöpfungsreaktionen oder BurnoutBurnout (vgl. UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 33; 47). Aus psychologischer Sicht sind die wenigsten Menschen masochistisch veranlagt und verschreiben sich auf Dauer Selbstoptimierungsprogrammen, die autodestruktiv sind und weder Vergnügen noch Befriedigung bringen (vgl. Balandis u.a., 148). Die befürchtete Entsolidarisierung der individualisierten Gesellschaft drohte nur dann, wenn der gesellschaftliche Ruf nach Selbstoptimierung zur Entlastung von Politik und Gesellschaft führte und der Einzelne ungeachtet unwürdiger Erwerbs- und Lebensbedingungen auch für sein Unglück selbst verantwortlich sein soll. Der sozialethisch höchst problematische Umkehrschluss zur positiven liberalen Maxime „Jeder ist seines Glückes Schmied“ lautete dann: Wer im Leben nicht alles erreicht hat und nicht sein Glück macht, hat sich nicht genug angestrengt!
3) Notwendigkeit einer Ambivalenztoleranz
Klare Einordnungen der Selbstoptimierung in oppositionelle Kategorien wie „positiver Ansporn“ oder „Selbstausbeutung“, „Freiheitszuwachs“ oder „sozialer Druck“, „Weg zum Glück“ oder „Wahn“ werden der Komplexität der Thematik nicht gerecht und behindern die gesellschaftliche Debatte. Bei multifaktoriellen und vielschichtigen kulturellen Entwicklungsprozessen ist es nicht leicht auseinanderzuhalten, was „von innen“ von den Menschen selbst oder „von außen“ von der Gesellschaft kommt, deren Teil die Menschen sind. Individuelle Autonomie und gesellschaftliche Orientierungsmuster und Wertstandards schließen einander in demokratischen Gesellschaften keineswegs kategorisch aus. Optimierungsbemühungen führen nicht zwingend zu Selbstausbeutung und Erschöpfung, sondern viele Menschen haben Spaß an den neuen Möglichkeiten der Weiterentwicklung, der erhöhten Selbstkontrolle und Selbstverantwortung und dem besseren Erreichen ihrer Ziele (vgl. Balandis u.a., 134; 148/KingKing, Vera u.a., 292). Selbstoptimierungnegative AspekteSchwerlich ist schon das typisch menschliche Bestreben problematisch, sich selbst zu verändern und das Beste aus sich und seinem Leben zu machen. Nur unangemessene, unerreichbare Perfektionsideale und ein übersteigerter PerfektionismusPerfektionismus/perfektionistisch und Kontrollzwang führen zu Selbstüberforderung und Minderwertigkeitsgefühlen. Weder ein erfolgszuversichtliches, strukturiertes und effektives Handeln und lebenslanges Lernen zum ständigen Effizienz-/ LeistungssteigerungErwerb neuer Kompetenzen noch auch erhöhte Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Selbstorganisation sind einem guten Leben abträglich, sondern begünstigen es im Gegenteil. Verwerflich sind nur die sich darauf abstützenden, maßlos gesteigerten und unerfüllbaren beruflichen oder gesellschaftlichen Anforderungen an die Einzelnen. Werden auch unverantwortete, sozial oder natürlich bedingte Kosten und Risiken dem Einzelnen angelastet, so werden die Ansprüche an die individuelle Selbstverantwortung deutlich überzogen und die „Pflicht zum Glück“ wird „asozial“ (vgl. SchmidSchmid, Wilhelm 2012, 7ff./GugutzerGugutzer, Robert, 2). Es braucht eine gelassene und sachlich-nüchterne Einstellung, um diese grundlegende und hochgradige Ambivalenz der Selbstoptimierung erst einmal wahrnehmen zu können (vgl. Balandis u.a., 148). Ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatten sollten dann jedoch die zukunftsgerichteten Fragen rücken, welche Aspekte des Selbstoptimierungstrends sich positiv oder negativ auf das individuelle oder gesellschaftliche Leben auswirken und mit welchen Regulierungsmaßnahmen sich seine Weiterentwicklung gezielt beeinflussen lässt. Die Anwendungskontexte und verschiedenen Formen von Selbstoptimierung sind allerdings so vielfältig, dass pauschale Urteile wenig sinnvoll sind und sorgfältige Einzelfallanalysen durchgeführt werden müssen (vgl. AchAch, Johann 2016, 141).
1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement
Zum Zwecke der Selbstoptimierung werden immer stärker auch die ständig erweiterten und präziseren Verbesserungsmöglichkeiten der Medizin nachgefragt. Parallel zum Selbstoptimierungstrend wird infolgedessen auch ein Gestaltwandel im traditionellen Grundverständnis der Medizin hin zu einer wunscherfüllenden MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative diagnostiziert (vgl. KettnerKettner, Matthias, 81f./Junker u.a., 66f.): Während die traditionelle Medizin wesentlich kurativ war und der Heilung und Prävention von Krankheiten diente, werden medizinische Verfahren in der modernen Medizin zunehmend zur Erfüllung individueller Wünsche nach Vitalität, Lifestyle, Lebensplanung, Verschönerung des Körpers und Optimierung der normalen Funktionsfähigkeiten eingesetzt. Traditionell war die Medizin am Krankheitsbegriff orientiert und konzentrierte sich auf die Pathogenese als Entstehung von Krankheiten, wohingegen Gesundheit negativ als Abwesenheit von Krankheit definiert wurde. Im Gegensatz dazu wendet sich die wunscherfüllende MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative der Gesundheit als einer positiven und beliebig steigerbaren komplexen „soziobiologischen Qualität“ zu und kümmert sich um die Salutogenese, d.h. die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (vgl. KettnerKettner,