Deskriptiv gesehen wird nicht nur die beliebte neoliberalismuskritische begriffliche Reduktion der Selbstoptimierung auf einen ökonomischen Auswuchs dem komplexen Phänomen Selbstoptimierung mit verschiedensten Praktiken und Zielsetzungen nicht gerecht. Auch die gängige Einschränkung der Selbstoptimierung auf Mittel der Technik, Medizin, Pharmazie und Neurowissenschaft im Sinne des engen SelbstoptimierungSelbstoptimierungenger/weiter Begriffsbegriffs führt zu einem einseitigen Bild von gegenwärtigen Selbstoptimierungsbestrebungen. Denn auch im Zeitalter der Selbstoptimierung verbessern sich die Menschen keineswegs nur mit technischen Mitteln, sondern auch oder sogar vorwiegend durch ihre Lebensführung und die Arbeit an sich selbst (vgl. KipkeKipke, Roland 2012, 269f.): Der Selbstoptimierungstrend hat einen riesigen Selbstentwicklungsmarkt mit Lebenshilfeliteratur, Internetforen, Beratungsangeboten und Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung hervorgebracht. Allgegenwärtig sind Appelle zum lebenslangen Lernen und zur Steigerung verschiedenster kognitiver, sozialer und emotionaler Kompetenzen (vgl. Balandis u.a., 133). Unüberschaubar ist das Angebot an Erziehungs- und Beziehungsberatung, zum Zeit- und SelbstmanagementSelbstmanagement oder zum Willens- und Motivationstraining, die alle gänzlich ohne den Einsatz technischer Hilfsmittel auskommen (vgl. ebd., 14f.). Problematisch ist zudem die normative These, die Rede von „Optimierung“ statt von „Verbesserung“ sei symptomatisch für den Wandel von einer moralischen hin zu einem technizistischen MenschenbildMenschenbildertechnizistische (vgl. LiessmannLiessmann, Konrad, 9). Es wird dabei unterstellt, dass die traditionelle Verbesserung des Menschen durch Moral, Aufklärung und eine humanistische Kultur verdrängt oder gar abgelöst wird durch moderne Technik und Gentechnik. Diese weiterführende Verdrängungsthese muss aber gesondert diskutiert werden und rechtfertigt nicht den Generalverdacht konservativer TechnikkritikTechnikkritik, sämtliche technischen Entwicklungen stellten eine Bedrohung der Humanität dar. In der vorliegenden Studie wird zwar „SelbstoptimierungSelbstoptimierungenger/weiter Begriff“ durchaus in einem weiten Sinn verstanden, ohne dass ihr von vornherein bestimmte Zielsetzungen wie ökonomisch-technische Effizienz, Gewinn- oder Leistungssteigerung unterstellt würden. Es werden aber in den Kapiteln 3–5 aus dem Grund ausschließlich technikbasierte Formen der Selbstoptimierung genauer analysiert, weil diese wegen ihrer noch unbekannten Folgen für Individuum und Gesellschaft ganz anders auf dem Prüfstand stehen als traditionelle Verbesserungsbestrebungen durch Bildung, mentales Training oder Ernährungsprogramme. Dieser ethische Grundriss erhebt also nicht den kaum erfüllbaren Anspruch, die ganze Breite gegenwärtiger Selbstoptimierungs-Praktiken mit ihren anvisierten Zielen und zugrundeliegenden Wertvorstellungen kritisch zu sichten.
1.1.2 Das „Selbst“
Das „Selbst“ ist bei Selbstoptimierungs-Handlungen sowohl das Subjekt als auch das Objekt. Allerdings ist das „Selbst“ ein sehr komplexes, aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven unterschiedlich darstellbares Phänomen, sodass es keine einheitliche Begriffsverwendung gibt. Grundlegende Voraussetzung für jedes zielgerichtete Handeln ist jedoch, dass sich das „SelbstSelbst“ in einem theoretischen Selbstverhältnis bewusst wird: Ein „Selbst-Bewusstsein“ entsteht, indem sich ein „kognitives Ich“ oder „reines Selbst“ auf seine Bewusstseins-Akte wie Meinen, Urteilen, Wünschen und Erleben zurückwendet und sich selbst zum Objekt macht. Das Sich-Wiedererkennen und Identifizieren-Können in einem Spiegel dient gerne als Symbol und Zeichen für ein „Selbst“ bzw. „Selbstbewusstsein“, weshalb in der empirischen Forschung ein sogenannter Spiegeltest eingesetzt wird. Gemäß den Sozialpsychologen William James und George Mead lässt sich das Selbst oder die Ich-Identität als ein Gleichgewicht zwischen a) dem aktiven, vollzugshaften Moment des „I“ oder „reinen Selbst“ und b) dem passiven, objektivierten Moment des „me“ oder „empirischen Selbst“ verstehen.
Das reine Selbst, das „Ich“ oder „erkennende Selbst“ (a) meint die mentale Fähigkeit, zu den charakterlichen, biographischen und situativen Gegebenheiten bewusst und reflexiv Stellung zu beziehen. Demgegenüber setzt sich das empirische Selbst (b) aus einem „materiellen Selbst“ mit Körper, Kleidung etc., dem „sozialen Selbst“ mit Status und sozialen Rollen und dem „geistigen Selbst“ mit psychischer Disposition und Charaktereigenschaften zusammen. Ein Selbst, eine Ich-IdentitätIdentität oder persönliche Identität ergibt sich aber erst, wenn die empirischen Aspekte mit den persönlichen kognitiven Deutungen und Bewertungen dieser Tatsachen vermittelt werden. Das verbindende Dritte in diesem Strukturmodell des „Selbst“ ist das „SelbstkonzeptSelbstkonzept/ -bild“ oder „Selbstbild“ eines Menschen, das erst eine gewisse zeitliche Stabilität der persönlichen Identität herzustellen vermag: In der Psychologie wird das Selbstkonzept meist deskriptiv verstanden als das auf eigenen Erinnerungen basierende Wissen davon, wer man selbst ist. Philosophen interessieren sich vornehmlich für die normative Dimension des Selbstkonzepts und sprechen von einem „normativen Selbst“ oder „normativen Selbstbild“ (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 61/Fenner 2007, 98f.): Das normative Selbst oder normative Selbstbild ist ein prospektiver Selbstentwurf, der auf der Grundlage einer umfassenden Interpretation und Bewertung der materiellen, körperlichen, sozialen und geistigen Dispositionen die wichtigsten Lebensziele und Ideale für die zukünftige Entwicklung festlegt.
Bei einem auf Handlungen ausgerichteten praktischen Selbstverhältnis bestimmt das „reine SelbstSelbst“ in einem solchen persönlichen Selbstentwurf, welche Anlagen, Fähigkeiten und sozialen Rollen im eigenen Leben wichtig sind und in welcher Form sie realisiert werden sollen. Wenn jemand allerdings ein völlig realitätsfremdes „normatives Selbst“ oder „Ideal-Selbst“ entwirft, wird dieses ein bloßes Phantasieprodukt bleiben. Ein erfolgreicher Selbstoptimierungsprozess vom Ist- zum Soll-Zustand setzt daher eine möglichst genaue deskriptive Analyse des bereits in Erscheinung getretenen „empirischen Selbst“ voraus. Dem Projekt der Selbstoptimierung sind aber nicht nur durch die genetischen Anlagen und die Faktizität Grenzen gesetzt, sondern auch durch kulturelle und gesellschaftliche Bewertungsmaßstäbe, Idealvorstellungen und faktische Selbsttechnologien. Schon hinsichtlich der Genese eines Selbstbilds und eines prospektiven