Selbstoptimierung und Enhancement. Dagmar Fenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Fenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783846351277
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und Selbststeuerung wider: Dank digitalen Helfern wie Apps oder „Fitness-Trackern“ werden Schritte gezählt und Vitalität und Schlafrhythmus gemessen und kontrolliert, um Arbeitsproduktivität, Fitness oder Schlafqualität zu verbessern (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 7f./Kap. 3.3).

      Da die oben erläuterten exakten begrifflichen Differenzierungen zwischen „Verbessern“ und „Optimieren“ weder im gesellschaftlichen Diskurs noch unter den praktizierenden Selbstoptimierern eine Rolle spielen, können sie im Folgenden als Synonyme verwendet werden. Statt um eine radikale Wandlung hin zu einem vollkommeneren oder perfekten Menschen geht es fast immer um eine graduelle Verbesserung bestimmter menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten: Zumeist wird unter Selbstoptimierung ein kontinuierlicher, allmählicher Prozess der Veränderung verstanden, der über ständige Rückmeldungen, Selbstkontrolle und Verbesserung der Lebensführung sukzessive zur bestmöglichen persönlichen Verfassung hinführt (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 3f.). Optimiert werden können prinzipiell alle Dimensionen des Selbst: physische, psychische, soziale und geistige Zustände oder Eigenschaften, Handlungsabläufe, Arbeitsprozesse und Kompetenzen in sämtlichen menschlichen Lebensbereichen. Selbstoptimierung ist aber nicht nur für die verschiedensten Ziele offen, sondern auch für alle nur denkbaren Mittel. Selbstoptimierung im weiten SinnSelbstoptimierungenger/weiter Begriff umfasst alle von Menschen je ins Auge gefassten Verbesserungen mit allen möglichen Methoden, also sowohl neuste Technologien als auch traditionelle und technikfreie Praktiken wie Bildung, Erziehung, Meditation und Training. In programmatischen Beiträgen zur Debatte wird der Begriff zwar häufig derart ausgeweitet, dass letztlich alle menschlichen Tätigkeiten und Phänomene darunter verbucht werden. Damit die weite Begriffsverwendung nicht inflationiert und der Begriff bedeutungslos wird, müssen aber typische Merkmale von Selbstoptimierungsprozessen wie systematisches und rationales Vorgehen, Selbstreflexion und Verbesserung durch gezielte Rückmeldungen vorliegen. Es ist also z.B. zu unterscheiden zwischen dem Gang zum Frisör zwecks routinemäßigen Haareschneidens ohne eigene Verbesserungswünsche und dem Ziel der Annäherung an ein bestimmtes Schönheits- oder Lifestyle-Ideal. Auch ist eine vom Jobcenter zum Zweck der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt angeordnete Weiterbildungsmaßnahme genauso wenig eine Selbstoptimierung wie das Zubereiten von Speisen zur ausschließlichen Stillung primärer Bedürfnisse. Diesen Schwierigkeiten einer weiten Begriffsverwendung entgeht man bei einer Einschränkung der Mittel auf neue technologische Verfahren: Selbstoptimierung im engen Sinn bezieht sich lediglich auf technikbasierte, zumeist biomedizinische oder pharmakologische Methoden. Viele Missverständnisse in der aktuellen Selbstoptimierungs-Debatte ließen sich vermeiden, wenn klar zwischen einem „engen“ und „weiten Begriff“ von Selbstoptimierung unterschieden würde (vgl. Röcke, 321).

      Notwendigkeit der Bestimmung normativer Standards

      „Verbesserung“ und „Optimierung“ sind insofern normative, d.h. wertende Begriffe, als sie eine Bewertung der Veränderung enthalten. Denn eine Verbesserung oder Optimierung meint im Gegensatz zu einer Verschlechterung stets eine begrüßenswerte Veränderung zum Positiven oder zum Guten hin. Der Begriff „Selbstoptimierung“ ist also nicht neutral, sondern positiv konnotiert und impliziert eine positive Bewertung der bezeichneten Phänomene (vgl. SchleimSchleim, Stefan, 181/Schoilew, 9). Um Handlungsweisen oder Veränderungen als „OptimierungOptimierung, Optimum“ oder „Verbesserung“ ausweisen zu können, müssten daher korrekterweise Bewertungskriterien oder normative Standards angegeben werden (vgl. AchAch, Johann 2016, 118/Röcke, 321). Statt die dahinterstehenden normativen Maßstäbe oder Wertstandards offen zu legen suggerieren aber Befürwortern neuer Selbsttechnologien häufig, es handle sich bei sämtlichen Selbstoptimierungs-Maßnahmen schon aus begriffslogischer Notwendigkeit um Verbesserungen hin zu einem positiven Zustand (vgl. exemplarisch HarrisHarris, John 2007, 9; 36). Damit greifen sie einer ethischen Beurteilung der verschiedenen Selbstoptimierungs-Praktiken vor, die jedoch erst das Resultat ihrer kritischen Prüfung anhand bestimmter ausgewiesener Wertstandards sein kann. Zum Zweck einer näheren Untersuchung sollen hier zwar unter „SelbstoptimierungSelbstoptimierung“ erst einmal aus einer rein deskriptiven Perspektive sämtliche Praktiken, Methoden und Veränderungen in Richtung auf einen Zustand hin gezählt werden, der von den Betroffenen aus ihrer jeweiligen Perspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt subjektiv als wünschenswert empfunden wird. Aus dieser deskriptiven Zuordnung bestimmter Veränderungen zur Klasse der „Selbstoptimierungen“ wird aber nicht automatisch auf eine positive normative Bewertung geschlossen werden. Vielmehr ist in Rechnung zu stellen, dass es sich im Einzelfall vielleicht statt um Verbesserungen genau besehen um Verschlechterungen hinsichtlich des persönlichen oder gesellschaftlichen Lebens handelt. Denn es ist grundsätzlich möglich, dass Selbstoptimierer oder die Gesellschaft bestimmte Selbstoptimierungsziele oder -methoden fälschlicherweise für gut oder unbedenklich halten. Aus ethischer Sicht kommen als grundlegende Beurteilungshinsichten primär das gute Leben oder eine gesteigerte Lebensqualität der handelnden Personen selbst und sekundär die Gerechtigkeit in Frage, wobei allerdings beide normativen Bezugsgrößen inhaltlich sehr verschieden konkretisiert werden können (Kap. 2.1/2.2). Die normativen Standards zur Bestimmung der Richtung von „Verbesserungen“ müssen daher selbst zum Gegenstand der Selbstoptimierungs-Debatte gemacht werden, da sie einer rationalen Begründung mittels Argumente bedürfen.

      Was eine Selbst-Verbesserung oder das „OptimumOptimierung, Optimum“ eines Menschen oder gar „der“ Menschen sein soll, steht also nicht von Anfang an fest. Hierin unterscheiden sich Optimierungsprozesse des „Selbst“ von Optimierungsaufgaben in der Mathematik oder der Wirtschaft, bei denen ein bestimmtes Ziel in maximaler Weise erreicht werden soll (vgl. MeißnerMeißner, Stefan, 221f.). Der DUDEN behauptet allerdings mit seiner Definition, dass das „Optimum“ und die normativen Standards den Individuen von außen vorgegeben werden und sie zur Anpassung gezwungen werden: „Selbstoptimierung“ sei „jemandes (übermäßige) freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale“. Obgleich die Einzelpersonen ihre Wert- und Zielvorstellungen stets in einer hochkomplexen Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld entwickeln, ist diese Darstellung allzu verkürzt. Der von Kritikern des Selbstoptimierungstrends vielfach beklagte soziale Druck soll zwar ein wichtiges Thema dieser Studie sein, ohne dass aber mit einer solchen definitorischen Festlegung schon eine pauschale Vorverurteilung vorgenommen wird. Die Reduktion auf „Anpassung an äußere Zwänge“ ist auch deswegen einseitig, weil die gesellschaftlichen Normen und Ideale auf die Anerkennung der Menschen angewiesen sind und sich mit einem Wandel ihrer Wertvorstellungen verändern. Umfragen deuten auf eine Verlagerung der individuellen Zielsetzungen seit dem Aufkommen des Trends weg von außenorientierten instrumentellen Bewertungsmaßstäben wie Produktivität, Effizienz und Leistungssteigerung hin zu innenorientierten Werten wie Gesundheit, Lebensqualität und Entspannung hin (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2016, 5; 7). Aus der Teilnehmerperspektive hat Selbstoptimierung weniger mit Druck, Erfolg und Ehrgeiz zu tun, sondern viel mehr mit Gestaltungsfreiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung. Nach einer neueren Befragung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest aus dem Jahre 2016 optimieren die Menschen ihr Leben konkret dadurch, dass sie „für Ruhe und Entspannung sorgen“ (62 %), sich um „gute Ernährung“ (59 %) und „genug Schlaf“ (56 %) kümmern, „regelmäßig Sport treiben“ (46 %) und „auf eine Balance von Arbeit und Freizeit achten“ (32 %) (vgl. ebd., 5). Selbstoptimierung bedeutet also keineswegs zwingend die Anpassung an Ideale des olympischen „höher, schneller, weiter“, sondern im Rahmen einer „Selbstoptimierung 2.0“ vermehrt auch ein „ruhiger, langsamer, weniger“ (vgl. ebd.). Gegensatzmodell zu der immer noch dominierenden „Selbsteffektivierung“ ist die „Selbststeigerung“ als ästhetische Selbstverwirklichung, bei der gesellschaftliche Anforderungen gerade zurückgewiesen und neue Selbsterfahrungen gesucht werden (vgl. MeißnerMeißner, Stefan, 224; 228f.).

      Definitorische Verengung auf wirtschaftliche und technische „Optimierung“

      Viele Selbstoptimierungsgegner stoßen sich bereits am Begriff OptimierungOptimierung, Optimum, der einen unsympathischen technoiden Klang aufweist und dem technisch-ökonomischen Bereich entstammt. Denn er wurde im 20. Jahrhundert zunächst im Bereich der angewandten Mathematik z.B. in der Informatik für die Effizienzsteigerung von Computerprogrammen