Selbstoptimierung und Enhancement. Dagmar Fenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Fenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783846351277
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eine Täuschung durch falsche oder selektive Informationen bzw. das bewusste Vorenthalten relevanter Kenntnisse über die Handlungssituation aus. Wird beispielsweise eine Person durch die Werbung der Schönheitsindustrie mit irreführenden und suggestiven Bildern versorgt und durch die behandelnden Chirurgen unzureichend über eine gewünschte Schönheitsoperation aufgeklärt, kann ihre Entscheidung nicht frei genannt werden.

      FreiheitAm häufigsten verbindet man Heteronomie jedoch mit der Vorstellung von einem direkten sozialen ZwangDruck, sozialer, bei dem jemand unter Anwendung oder Androhung von Gewalt zu etwas gezwungen wird, das seinem Willen widerstrebt. Aufgrund des moralischen und auch rechtlich geschützten Rechts auf Selbstbestimmung verbietet sich ein solches Aufzwingen eines fremden Willens durch Gewalt oder Nötigung. Entsprechend ist auch ein direkter Zwang zu Verbesserungshandlungen unter fast allen Umständen ethisch unzulässig (vgl. oben/AchAch, Johann 2016, 127f.). Wie bei der Erörterung der sozial externen Beschränkungen menschlicher Handlungsfreiheit gesehen, sind aber subtilere, gewaltfreie Formen eines indirekten sozialen Zwangs etwa durch gesellschaftliche Normen oder Ideale schwieriger zu kategorisieren und zu beurteilen. Sind wir etwa allein schon deswegen unfrei, weil wir in eine bestimmte Gesellschaft mit vorgegebenen Handlungsoptionen, Wertvorstellungen und Gesetzen hineingeboren werden? Schließlich hat es keiner frei gewählt, in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft mit dem neuen handlungsmächtigen Trend zur Selbstoptimierung zu leben. Auch wenn Willensfreiheit in sozialer Hinsicht sicherlich durch mehr als nur durch direkte Gewalteinwirkung und Manipulation bedroht ist, wird sie schwerlich durch die vorgefundene Auswahl an gesellschaftlichen Selbstbildern, Rollenmustern und Vorstellungen vom guten Leben schon prinzipiell verunmöglicht. Denn Willensfreiheit oder Selbstbestimmung dürfen nicht mit einer absoluten Autonomie oder Autarkie in dem Sinn verwechselt werden, dass sich ein freier Wille in völliger sozialer Isolation und ohne jeden Einfluss entwickeln müsste. Vielmehr spielen zunächst Vorbilder, frühe Bezugspersonen und Lehrer eine zentrale Rolle, damit Heranwachsende mit den in der Gesellschaft realisierbaren Möglichkeiten an Selbstbildern und Lebensformen überhaupt erst einmal vertraut werden. Sowohl die WünscheWünscheerster/zweiter Ordnung erster Ordnung als auch die Bewertungsmaßstäbe der Wünsche zweiter Ordnung formen sich stets in Interaktion mit dem sozialen Umfeld heran. Positiv betrachtet können die Mitmenschen eine große Hilfe dabei sein, die eigenen Wünsche und das eigene Wollen zu erkennen und mit kritischem Nachfragen gegebenenfalls über eine Selbsttäuschung hinwegzuhelfen (vgl. BieriBieri, Peter, 421). Damit sich eine Identität oder ein Selbst herausbilden und stabilisieren kann, ist außerdem die Anerkennung der selbstgewählten Ziele und Ideale durch das soziale Umfeld erforderlich. Doch wo liegt die Grenze zwischen einem im Austausch mit anderen entwickelten autonomen Willen und einem von der Gesellschaft oktroyierten oder durch sie manipulierten heteronomen Willen, wenn es nicht um Autarkie und innere Abgeschlossenheit geht?

      FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)Druck, sozialerSozial vorgegebene Ideale und Vorstellungen vom guten Leben müssen sich letztlich in der Praxis dadurch bewährenArgumenteBewährungs-, dass sie dem Einzelnen tatsächlich ein gelingendes gutes Leben ermöglichen. Auch wenn das Verfahren wegen der frühkindlich erworbenen gesellschaftlichen Beurteilungsmaßstäbe als zirkulär erscheint, werden Werterfahrung und Glückserleben nicht vollständig determiniert durch diese internalisierten normativen Orientierungen. Während Handlungsfreiheit nur in einer Gesellschaft realisierbar ist, die dem Einzelnen einen ausreichenden Handlungsspielraum lässt, setzt Willensfreiheit eine gesellschaftliche Offenheit gegenüber verschiedenen Lebensentwürfen und Wertvorstellungen voraus. Statt ihre Mitglieder zu einer teilnahmslosen Anpassung an bestimmte vorgegebene Ziele und Ideale zu zwingen, müsste eine freiheitsfördernde Gesellschaft individuell abweichenden Lebensentwürfen wenigstens ein Minimum an Anerkennung und Unterstützung zusichern. Ein negatives Extrembeispiel wäre eine totalitäre religiöse Gemeinschaft oder „Sekte“, die mit einer lückenlosen Informationskontrolle und einem strengen Regiment des Belohnens und Bestrafens die vollständige Unterwerfung des Einzelnen unter die Gemeinschaft intendiert und jede kritische Auseinandersetzung mit dem religiösen Orientierungssystem unterbindet. Wenn die Mitglieder zuerst emotional und finanziell von der Gemeinschaft abhängig gemacht werden und ihnen bei abweichenden Meinung mit der sozialen Ausschließung gedroht wird, ist das Verlassen der „Sekte“ für die Betroffenen keine erwägenswerte Option mehr. Bezüglich der Selbstoptimierung könnte man einen analogen Fall so konstruieren, dass in Zukunft in sämtlichen Berufsbranchen irgendeine Form von Enhancement zu den Einstellungsbedingungen gehört. Auch hier hat jemand, der Enhancement grundsätzlich ablehnt, keine „echte“ Wahl, weil er die Exklusion aus der Arbeitswelt und damit meist auch aus einem sozialen Netzwerk nicht ernsthaft wollen kann. Von einer regelrechten Zwangslage oder einem gesellschaftlichen ZwangDruck, sozialer lässt sich allerdings strenggenommen nur da sprechen, wo basale menschliche Güter wie Leben, Gesundheit oder Fähigkeit zur Selbstbestimmung geopfert werden müssten. Denn sehr häufig wird in der alltäglichen Lebenspraxis etwas zwar nicht um seiner selbst willen erstrebt, aber als akzeptables Mittel zur Erfüllung eines eigenen Wunsches gutgeheißen (vgl. BieriBieri, Peter, 115f.). So schlucken wir eine bittere Medizin, um gesund zu werden, oder eben Pillen zur Leistungssteigerung, um einen besseren Job zu bekommen oder mit der Konkurrenz mithalten zu können. Sofern keine gravierenden Nebenwirkungen zu erwarten sind, ließe sich kaum von einer echten Zwangslage und der Unfreiheit des Willens sprechen (Kap. 4.4).FreiheitWillens-, Autonomie (positive)

      Kontrollbedingung: Selbststeuerungsfähigkeit

      FreiheitNeben der Erkenntnis- und Wertungsbedingung muss schließlich noch die Kontrollbedingung erfüllt sein: Eine Person muss sich in ihrem Handeln an den eigenen Gründen orientieren und die Verwirklichung der gewählten Handlungsziele einleiten können (vgl. LeefmannLeefmann, Jon, 287). Als Willensstärke wird die positiv formulierte Fähigkeit bezeichnet, seine eigenen Ziele durch absichtliches und realitätsgerechtes Handeln notfalls gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. Bei einem Willensschwachen hingegen erlischt der Wille rasch und wird wieder zum bloßen Wunsch, sobald sich die Realisierung der Ziele als schwierig herausstellt (vgl. BieriBieri, Peter, 38; 100/KipkeKipke, Roland 2011, 171ff.). Unabdingbar für die Kontrolle seines Willens ist außerdem die negativ definierte Fähigkeit, unwillkürlich auftretende, den persönlichen Zielen zuwiderlaufende Triebe, Motive und Gefühle hemmen zu können. Beide Fähigkeiten sind wichtige Komponenten der Selbstregulationsfähigkeit oder SelbststeuerungsfähigkeitSelbststeuerungsfähigkeit/Selbstkontrolle als Gesamtheit von bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, Emotionen und Handlungsimpulse regulieren. Diese individualethisch kaum zu überschätzende Fähigkeit zur Selbstregulierung umfasst außerdem noch die erwähnten Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und -bewertung sowie die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub und zur Selbstmotivation. Sie ist schon aufgrund genetischer Anlagen sehr unterschiedlich ausgeprägt und z.B. durch impulsive und aggressive Charakterdispositionen oder ADHS stark vermindert. Sie muss aber grundsätzlich in der frühen Kindheit trainiert werden, z.B. dank geeigneter Vorbilder, klarer Ansagen wie „Warte noch ein bisschen“ und der Kommentierung der kindlichen Gefühle und Gedanken als eine Art Anleitung zur Selbstreflexion wie: „Macht Dich das jetzt traurig?“ (vgl. Pauen). Die meisten Freiheitstheoretiker wie FrankfurtFrankfurt, Harry beschäftigen sich nicht weiter mit dem interessanten Fall, dass eine Person sich auf einer höheren Reflexionsebene gegen einen Wunsch erster Ordnung entscheidet, ohne dass dieser aber verschwindet. Diese Unfähigkeit zur KontrolleSelbststeuerungsfähigkeit/Selbstkontrolle des eigenen Willens könnte an einer krankhaften Sucht liegen oder in unbewusst wirkenden, frühkindlich verinnerlichten Idealen oder in dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen wie z.B. einem Hang zu Neid und Eifersucht verankert sein. Um vom Zustand der Unfreiheit wieder in denjenigen der FreiheitFreiheit zu gelangen, wäre dann die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit in Form einer Therapie oder Selbstformung erforderlich (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 102). Kontrovers diskutiert wird, ob biomedizinische Mittel zur Selbstoptimierung den eigenen Willen stärken oder langfristig die Fähigkeit zur Selbstregulierung und Selbstbestimmung untergraben (Kap. 4.4)FreiheitWillens-, Autonomie (positive)

      2.3.2 Würde

      In der Debatte um Selbstoptimierung