Erkenntnisbedingungen: hinlängliches Wissen und kognitive Fähigkeiten
FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)Damit sich ein freier Wille bilden kann, müssen etwas konkreter folgende Erkenntnisbedingungen erfüllt sein: Zunächst braucht es ein hinlängliches Wissen sowohl über die vorgefundene Wirklichkeit als auch die eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Jemand muss einigermaßen realistisch einschätzen können, welche Handlungsoptionen ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich offenstehen. Da in verschiedenen Handlungssituationen jeweils ganz unterschiedliche Kenntnisse vonnöten sind, kann die Willensfreiheit einer Person situativ in größerem oder kleinerem Grad vorhanden sein: Jemand kann in hinreichendem Maß willensfrei sein bei alltäglichen Verrichtungen wie Einkaufen, aber unfrei bei komplexeren Betätigungsformen wie Bankgeschäften. Wenn die kognitiven Fähigkeiten des Wahrnehmens und Erkennens z.B. infolge einer psychischen Erkrankung eingeschränkt sind, kommt es zu einer inadäquaten Situationswahrnehmung wie etwa beim „Tunnel-Blick“ von Depressiven oder einer krankhaft veränderten Körperwahrnehmung bei Kandidatinnen für Schönheitsoperationen (Kap. 3.1). Willensfreiheit erfordert daher zusätzlich die kognitiven Fähigkeiten des kritischen Prüfens und Hinterfragens: Kritisch überprüft werden sollen die eigenen Wünsche und Hintergrundannahmen, auf denen sie basieren. Auszusondern sind zum einen „neurotische WünscheWünscheneurotische“, die einer krankhaften psychischen Verfassung wie der erwähnten Körperbild-Störung oder einem Minderwertigkeitskomplex entspringen (vgl. Fenner 2007, 68f.). Denn die Befriedigung solcher Wünsche etwa nach Schönheitsoperationen oder der Eroberung von Frauen zum Beweis der eigenen Unwiderstehlichkeit bringt nicht die erhoffte Erfahrung von Erfüllung. Zum andern dürfen „uninformierteWünscheinformierte/uninformierte“ oder „unaufgeklärteWünscheaufgeklärte/unaufgeklärte Wünsche“ nicht zu Handlungszielen mutieren, weil ihnen Fehleinschätzungen der Handlungssituation oder der eigenen Fähigkeiten zugrunde liegen (vgl. ebd., 62f.). Dazu zählt etwa der oben erwähnte Wunsch nach einem Auftritt in der Scala bei mittelmäßigem musikalischem Talent. Eine sorgfältige Prüfung der eigenen Wünsche setzt eine reflexive, distanzierte Grundhaltung zu den eigenen Einstellungen und einen inneren, kritischen Abstand zu sich selbst voraus (vgl. BieriBieri, Peter, 71f./LeefmannLeefmann, Jon, 287f.). Ruiniert wird eine solche Haltung durch heftige Affekte oder Triebe: Höchst unfrei ist jemand in einer sogenannten Affekthandlung, bei der ein kurzzeitiger intensiver Erregungszustand etwa aufgrund einer überfordernden Stresssituation oder einer akuten Existenzangst die Einsichts- und Kritikfähigkeit ausschaltet oder stark herabsetzt. Genauso unfrei sind triebhafte Menschen, die sich einfach von ihren unhinterfragten spontanen Wünschen treiben lassen (vgl. FrankfurtFrankfurt, Harry, 72f.).
Wertungsbedingung: Ausbildung von Wünschen zweiter Ordnung
FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)Neben dieser Erkenntnisbedingung muss noch die Wertungsbedingung erfüllt sein: Die eigenen Dispositionen, Wünsche und Einstellungen sollen nicht nur erkannt, sondern auch mithilfe eigener Überlegungen bewertet werden (vgl. LeefmannLeefmann, Jon, 287). Willensfreiheit setzt nicht allein die Erkenntnis der faktisch vorhandenen Wünsche erster OrdnungWünscheerster/zweiter Ordnung voraus, die unmittelbar auf einen ersehnten Zustand oder ein erstrebtes Objekt gerichtet sind. Vielmehr braucht es gemäß Frankfurts vieldiskutierter Theorie der Willensfreiheit noch Wünsche zweiter Ordnung, die sich wertend auf solche Wünsche erster Ordnung beziehen (vgl. FrankfurtFrankfurt, Harry, 71): Wünsche zweiter Ordnung sind die auf einer höheren Reflexionsebene befindlichen Wünsche, bestimmte Wünsche erster Ordnung zu haben oder nicht zu haben. Wünscht sich jemand auf dieser höheren Ebene, dass ein bestimmter bereits vorhandener Wunsch ein Wille werde, nennt FrankfurtFrankfurt, Harry die entsprechenden Wünsche zweiter Ordnung Volitionen. Eine Person wäre genau dann willensfrei, wenn diejenigen Wünsche erster Ordnung handlungswirksam werden, die ihren Volitionen zweiter Ordnung entsprechen. Wichtig ist der Akt der Identifikation, d.h. die positive Bewertung und Bejahung der eigenen handlungswirksamen Wünsche und damit des eigenen Willens, weil dieser erst dadurch eine besondere „Zugehörigkeit“ zur Person erhält (vgl. BieriBieri, Peter, 382/FrankfurtFrankfurt, Harry, 93/KipkeKipke, Roland 2011, 106). Wünsche zweiter Ordnung können zentrale Wertvorstellungen, weiterreichende berufliche oder familiäre Lebensziele oder abstrakte Ideale wie Tapferkeit oder Coolness sein. Sie legen fest, was einer Person in ihrem Leben wichtig ist und wer sie sein möchte, und müssen sich mit vernünftigen Gründen rechtfertigen lassen. Während bei FrankfurtFrankfurt, Harry die Frage nach einem Bewertungsmaßstab für die Wünsche zweiter Ordnung offen bleibt und womöglich in einem unendlichen Regress auf immer noch höhere Stufen verschoben wird, hat man sein Modell später durch das Kriterium der „Kohärenz“ erweitert (vgl. KipkeKipke, Roland 2009, 377): Volitionen müssen kohärent sein, d.h. in den Gesamtzusammenhang einer Persönlichkeit mit stabilem Wertesystem und umfassendem Lebensplan integriert sein. Da die zentralen Lebensziele und Ideale das „Selbstkonzept“ oder „normative Selbst“ einer Person konstituieren, muss der freie Wille mit dem normativen Selbst übereinstimmen (Kap. 1.1). Willensfreiheit ist daher gleichbedeutend mit Selbstbestimmung oder „Selbstübereinstimmung“ sowie AutonomieFreiheitWillens-, Autonomie (positive) oder „Selbstgesetzgebung“, weil sich die Person mit ihrem Selbstkonzept und ihren Lebenszielen ihr „eigenes Gesetz“ gibt und diesem in ihrem Wollen und Handeln Ausdruck verleiht. Nur wenn sie im Einklang mit ihrem normativen Selbstbild handelt, tut sie das, was sie wirklich tun will.
Negative Randbedingung: Fehlen von Heteronomie
FreiheitOb Willensfreiheit vorliegt oder nicht, scheint nun wesentlich von der Art der Genese der Wünsche zweiter Ordnung abzuhängen: a) Intern betrachtet bedroht ein psychologischer Determinismus den freien Willen, b) extern gesehen eine Heteronomie im Sinne sozialer Fremdbestimmung. Ad a: Gemäß dem etwa von Gerhard Roth und Wolf Singer vertretenen psychologischen DeterminismusDeterminismus werden der Wille und das Handeln einer Person determiniert durch ihre eigenen Wünsche, Charakterzüge und Gewohnheiten, die ihrerseits durch Faktoren wie genetische Anlagen, frühkindliche Prägung und biographische Entwicklung bedingt sind (vgl. dazu Wildfeuer, 364f./KipkeKipke, Roland 2011, 100f.). Ihrer Ansicht nach ist Willensfreiheit zwar mit einem solchen „weichen Determinismus“ vereinbar, weil kein äußerlicher Zwang, sondern nur eine Determination durch eigene Wünsche oder Motive stattfindet. Im strengen Sinn liegt positive Freiheit im Wollen aber wie gezeigt nur vor, wo reflexive Distanz zu den eigenen Wünschen, Motiven und Überzeugungen gewahrt ist und die Entscheidung für bestimmte Handlungsoptionen auf eigene Überlegungen zurückgeht. Obgleich die bei der Reflexion abgewogenen Gründe faktisch von Erziehung, Sozialisation oder persönlichen Erfahrungen herstammen mögen, müssen sie kritisch hinterfragt und geprüft und aus reflexiver Distanz bejaht oder verworfen werden (vgl. Fenner 2008, 187f.). Ad b: Ethisch gesehen von viel größerer Relevanz ist die Bedrohung der Willensfreiheit durch Heteronomie oder Fremdbestimmung, weil eine solche Verletzung des grundlegenden Rechts auf Selbstbestimmung durch Mitmenschen oder den Staat moralisch höchst verwerflich ist: Ursprung des Wollens und Handelns ist dann nicht das handelnde Subjekt selbst, sondern der Wille einer anderen Person oder einer sozialen Gruppe. Das Fehlen von äußerer Fremdbestimmung oder Heteronomie stellt gewissermaßen eine negative Randbedingung für innere Selbstbestimmung oder Autonomie dar. Ein klarer Fall von Heteronomie ist die ManipulationManipulation, bei der durch einen gezielten Einsatz von Rhetorik, Propaganda, Drogen oder anderen psychologischen Mitteln die kritische Reflexionsfähigkeit und der Wille anderer Menschen ausgeschaltet werden. So versucht suggestive, manipulativeManipulation Werbung z.B. durch die Kürze der Einblendung eine bewusste Wahrnehmung zu umgehen oder unbewusste Ängste oder Bedürfnisse