Selbstoptimierung und Enhancement. Dagmar Fenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Fenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783846351277
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Glück als Maximum an Lustempfindungen oder Erfüllung von Präferenzen definieren, kämpfen mit den allgemeinen Problemen des UtilitarismusEthikutilitaristische (vgl. Hinsch 2016, 81/Knell, 578): So hinge dann das Wohlergehen der Menschen von beliebigen faktischen Bedürfnissen und Wünschen ab, die im Utilitarismus keiner Kritik unterzogen werden. Darunter könnten sich aber die Lust und Befriedigung am Quälen oder Vergewaltigen anderer Menschen („offensive tastes“) befinden, die aus moralischer Perspektive höchst verwerflich sind. Darüber hinaus scheinen exquisite und äußerst kostspielige Wünsche oder Vorlieben der in Wohlstand aufgewachsenen Gesellschaftsmitglieder („expensive tastes“) zu einer ungerechten Verteilung zu führen, wenn gleichzeitig die aus bildungsfernem Milieu Stammenden viele Wünsche zur Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten gar nicht ausbilden können und mit ganz Wenigem zufrieden sind („adaptive Präferenzen“). Prominente Vertreter wie Richard ArnesonArneson, Richard und John Roemer fordern aus diesen Gründen nicht die Gleichheit des faktischen Wohlbefindens, sondern die Gleichverteilung der realen Chancen auf das Erlangen von Wohlergehen (vgl. Meyer, 166/Knell, 581ff.). Bei Arnesons Chancen-auf-Wohlergehen-EgalitarismusEgalitarismusChancen-auf-Wohlergehens- werden nur reflektierte, rationale Präferenzen berücksichtigt, nicht aber unerfüllbare, auf Fehlentscheidungen basierende Vorlieben beispielsweise für erlesenen Champagner (vgl. Arneson, 336f.). Im Sinne des erwähnten Schicksals-EgalitarismusEgalitarismusSchicksals- („luck“-) sollen nicht solche selbst vergebenen, sondern nur unverschuldet eingeschränkte Chancen auf Wohlergehen kompensiert werden, die beispielsweise auf verminderte Intelligenz oder körperliche Gebrechen zurückgehen. Verfechter des Chancen-auf-Wohlfahrts-EgalitarismusEgalitarismusChancen-auf-Wohlergehens- blenden die praktische Schwierigkeit nicht aus, dass ein Staat kaum über die notwendigen Informationen über die Selbstkontrollmöglichkeit der Bürger verfügt und allen in vergleichbaren Lebenslagen ein gleichwertiges Spektrum an Optionen zum Befriedigen ihrer Neigungen verschaffen kann (vgl. ebd., 340ff.). Letztlich verschieben sich bei dieser Konkretisierung materieller Chancengleichheit also lediglich die Schwierigkeiten der begrifflichen Bestimmung sowie der empirischen Messbarkeit und Vergleichbarkeit von „Wohlergehen“ auf die „Chancen“ zum Wohlergehen.Egalitarismus

      2.2.2 Nonegalitarismus: adressatenbezogene inegalitäre Gerechtigkeit

      Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Gegen alle diese hier kurz skizzierten egalitaristischen Gerechtigkeitsmodelle opponieren die Verfechter eines Non- oder InegalitarismusNonegalitarismus (Inegalitarismus) wie Avishai MargalitMargalit, Avishai oder Michael WalzerWalzer, Michael, die das komparativ-interpersonelle und relative Kriterium der Gleichheit für unangemessen halten (vgl. KrebsKrebs, Angelika, 70ff.). Denn bei der Frage nach Gerechtigkeit komme es überhaupt nicht auf den Vergleich mit anderen an, sondern lediglich darauf, wie es jedem Einzelnen an sich gehe und was ihm für sich genommen zustehe. Zur Widerlegung des Egalitarismus wird gerne das „Levelling down“-Argument angeführt, demzufolge die Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder an Elend und Unterdrückung schwerlich gerecht sein könne. Eine gerechte Verteilung von Gütern, Chancen oder anderen wohlergehensrelevanter Faktoren liege vielmehr erst dann vor, wenn alle Menschen genug davon für ein gutes, menschenwürdiges Leben haben. Gemessen werden menschenwürdige Lebensbedingungen an nicht-komparativen absoluten Standards etwa bezüglich Gesundheit, Ernährung, sozialer Anerkennung oder Bildung, die allerdings noch kulturspezifisch konkretisiert werden müssen (vgl. KrebsKrebs, Angelika, 18; 30f.). Gemäß dem Schwellenkonzept des nonegalitaristischen Humanismus sollen alle Menschen eine bestimmte Schwelle überschreiten und beispielsweise genug Bildung erhalten, um am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilnehmen zu können. Obwohl Nonegalitaristen nicht „egalitaristisch“ sein wollen und „Gleichheit“ nicht als Wert an sich, sondern nur als abgeleiteten Wert anerkennen, können sie gleichwohl bezüglich elementarer Grundbedürfnisse eine vergleichbare Gütermenge oder die gleichen Menschenrechte für alle fordern. Auch stellen nach diesem Gerechtigkeitsmodell Ungleichheiten an individueller Lebensqualität oder an Lebensaussichten oberhalb dieser Schwelle nicht direkt ein moralisches Problem dar. Zu große gesellschaftliche Ungleichheiten könnten aber unter Umständen den Benachteiligten das Überschreiten der Schwelle und damit ein gutes Leben verunmöglichen, sodass Nonegalitarismus (Inegalitarismus)Ungleichheit indirekt moralisch verwerflich wäre (vgl. KrebsKrebs, Angelika, 32f./Knell, 662–669). So könnte z.B. die Klasse der Bessergestellten die politische Autonomie der Benachteiligten einschränken, indem sie den politischen Prozess über Medien oder das Ausnützen ökonomischer Abhängigkeitsverhältnisse einseitig zu ihren Gunsten beeinflusst. Zudem bedrohen zu große ökonomische Ungleichheiten die soziale Integration und soziale Anerkennung der Armen, weil sich diese den in der Gesellschaft gepflegten gehobenen Lebensstil schlicht nicht leisten können. So könnte z.B. infolge teurer radikaler Enhancement-Maßnahmen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen, in der den Nichtoptimierten der Übertritt der Schwelle für ein gutes menschliches Leben verwehrt wäre (Kap. 4.4; 5).Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“

      2.3 Freiheit und Würde

      „FreiheitFreiheit“ und „Würde“ erlangten ihre überragende ideengeschichtliche Bedeutung in der Neuzeit im Laufe verschiedener Individualisierungs- und Emanzipationsbestrebungen (Kap. 1.2). In der Ethik bildet insbesondere die „Freiheit“ einen Grund- und Schlüsselbegriff, weil Freiheit sowohl die Voraussetzung ethischen Handelns als auch ein wichtiges oder gar das höchste ethische Beurteilungskriterium menschlichen Handelns darstellt: In der Tradition Immanuel Kants kann eine Handlung nur dann gut genannt werden, wenn sie sowohl aus Freiheit geschieht als auch die Freiheit des Handelnden und aller vom Handeln Betroffenen zum Ziel hat. Der Sinn oder die wesentliche Funktion von Moral wäre es entsprechend, die größtmögliche Freiheit für alle Mitglieder einer Handlungsgemeinschaft zu garantieren. Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass es neben der Freiheit noch andere wichtige Gesichtspunkte moralischer Rücksichtnahme wie z.B. die Verletzlichkeit, Grundbedürfnisse oder das Glück der Mitmenschen gibt. Im Folgenden soll es nicht um die vieldiskutierte empirisch-deskriptive Frage gehen, ob der DeterminismusDeterminismus oder Indeterminismus die Realität korrekt beschreiben (vgl. dazu HildtHildt, Elisabeth, 40f.). Ausgeschlossen wird jedoch von vornherein ein harter Determinismus mit seiner Unterstellung einer durchgängigen kausalen Vorbestimmtheit allen Geschehens, sodass auch psychische und geistige Phänomene vollständig durch die Kausalgesetze der Hirnprozesse erklärbar und vorhersehbar wären. Denn er gilt nicht nur physikalisch seit der Quantenphysik und der Chaostheorie als widerlegt, sondern er wäre mit der Freiheit als Grundvoraussetzung für ethisches Urteilen und Handeln unvereinbar. Ethische Reflexionen würden sich schlicht erübrigen, wenn es nicht zumindest einen partiellen Indeterminismus gäbe. Hier soll es aber um die definitorisch-begriffliche Frage gehen, was genau „Freiheit“ eigentlich meint und unter welchen Bedingungen sie vorliegt. „Freiheit“ und „Würde“ werden nämlich so viele Bedeutungen zugemessen, dass mit der Berufung auf diese Orientierungsmaßstäbe in der Selbstoptimierungs-Debatte für oder gegen bestimmte Praktiken argumentiert wird (Kap. 4.4). Viele Missverständnisse und Kontroversen entstehen dadurch, dass die Bezugsgrößen von den einzelnen Parteien nicht klar definiert und häufig aus strategischen Gründen auf einzelne Bedeutungsaspekte reduziert werden. Bei den komplexen Konzepten „FreiheitFreiheit“ und „Würde“ müssen aber genauso wie bei „Glück“ und „Gerechtigkeit“ zahlreiche Dimensionen und Formen unterschieden werden. Trotz teilweise abweichender Grenzziehung hat sich in der Philosophie folgende grundlegende Differenzierung durchgesetzt, die auch mit Blick auf die Selbstoptimierungsdebatte sehr hilfreich ist (vgl. Wildfeuer, 358):

      1 Handlungsfreiheit

      2 Willensfreiheit

      2.3.1 Philosophische Konzepte von „Freiheit“

      1) Handlungsfreiheit

      HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) meint ein Handeln-Können, ohne dabei von inneren oder äußeren Hindernissen oder Zwängen eingeschränkt zu werden (vgl. Fenner 2008, 183). Da diese Form von Freiheit wesentlich negativ als „Freiheit von“ Hindernissen bestimmt ist, wird