Selbstoptimierung und Enhancement. Dagmar Fenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Fenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783846351277
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sondern nur im Fall eines unfairen Wettbewerbs und illegitimer Wettbewerbsverzerrungen (Kap. 4.4). Natürlich lässt sich ganz unabhängig vom ethischen Prinzip der FreiheitFreiheit grundsätzlich über das gesellschaftliche und ökonomische Organisationsprinzip des Wettbewerbs diskutieren, indem noch andere ethische Prinzipien wie das Wohlergehen der Einzelnen, ein solidarisches Miteinander oder ökonomische Gerechtigkeit geltend gemacht werden (Kap. 2.2/4.4). Eine andere Form eines indirekten gesellschaftlichen Zwangs ist der soziale GruppendruckDruck, sozialer, der zur Anpassung an bestimmte gesellschaftliche Ideale drängt. Ethisch betrachtet ist ein solcher Gruppendruck aber wiederum nicht allein schon aufgrund der Einschränkung der HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) bedenklich, da sonst auch der Gruppendruck durch demokratisch legitimierte rechtliche oder moralische Normen verwerflich wäre. Inakzeptabel sind nur jene hinter dem Trend zur Selbstoptimierung stehenden gesellschaftlichen Ideale, die das gute Leben der Einzelnen oder das gerechte Zusammenleben gefährden. Dies dürfte zwar nicht auf gesellschaftliche Ideale wie Gesundheit oder Fitness, aber auf das verbreitete weibliche Schönheitsideal zutreffen, das einen hohen finanziellen Aufwand und das Risiko einer Minimierung von Gesundheit und Glück für die sich ihm „gezwungenermaßen“ unterwerfenden Frauen bedeuten kann (Kap. 3.1).

      Interne soziale Beschränkungen

      Interne soziale Beschränkungen schließlich sind Beschränkungen sozialer Handlungsressourcen, die zwar sozial bedingt sind, aber gleichwohl zur persönlichen Ausstattung der Individuen gehören. Dazu zählen etwa medizinische Grundversorgung, Bildung, berufliche Qualifikation und Arbeitsbedingungen. Infolge zunehmender gesellschaftlicher Enhancement-Praktiken könnten sich all diese Bedingungen so verändern, dass die individuelle Handlungsfreiheit zumindest bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie etwa den sozioökonomisch Schlechtergestellten verringert wird.

      Kritik

      FreiheitGrundsätzlich ist am liberalen Modell einer negativen Freiheit zu kritisieren, dass indirekte Formen eines externen gesellschaftlichen Zwangs sowie sozial interne Beschränkungen meist keine Beachtung finden. Von BioliberalenBioliberalismus werden die Selbstoptimierer häufig bereits dann als frei betrachtet, wenn sie nicht durch externe soziale Beschränkungen am Handeln nach ihren eigenen Wünschen gehindert werden. Auf diese Weise werden aber im Rahmen eines überzogenen Individualismus die sozialen, politischen und ökonomischen Hindernisgründe des Handeln-Könnens ausgeblendet. Denn damit gewisse Handlungsoptionen für die Einzelnen überhaupt Bedeutung erlangen können, müssen diese über bestimmte Mittel oder geeignete Fähigkeiten verfügen. Eine rein negative Freiheit als Hindernisfreiheit ist kein Wert an sich und für den Einzelnen solange praktisch nutzlos, als ihm die Voraussetzungen für die Realisierung der ihm offenstehenden Handlungsoptionen fehlen. So können jemandem die für die Aktualisierung der negativen Freiheit notwendigen natürlichen Dispositionen fehlen oder einfach die erforderlichen finanziellen Mittel, um von dem in einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Angebot an Selbstoptimierungstechnologien überhaupt Gebrauch machen zu können. Zynisch wäre es, einem sozioökonomisch Unterprivilegierten zuzurufen, er sei frei, sich nach Belieben selbst zu optimieren (vgl. Koller 1998, 485/Kap. 1.2). Die Rede von HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) scheint nicht sinnvoll zu sein, wo jemandem die notwendigen Mittel und auch eine Aussicht auf ihren zukünftigen Besitz vollständig fehlen. Trotz der gestiegenen technischen Möglichkeiten zur Selbstoptimierung erfährt er keinen Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten im positiven Sinn, sodass sich sein Handlungsspielraum faktisch nicht erweitert. Darüber hinaus ergab die knappe Analyse der vier Hinsichten möglicher Freiheitsschranken, dass weder der rein zahlenmäßige Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten ein hinlängliches ethisches Kriterium für die Zulassung oder Förderung sämtlicher Selbstoptimierungs-Praktiken darstellt noch die begründete Einschränkung bestimmter Optionen vermeintlicher „Selbstverbesserungen“ in jedem Fall ethisch unzulässig ist.

      2) Willensfreiheit

      FreiheitFreiheit im vollen Wortsinn erfordert neben dem negativen Moment der Handlungsfreiheit noch den positiven Aspekt der Willensfreiheit: Negative Freiheit als Freisein von Handlungsschranken stellt lediglich die äußere Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit dar, bedeutet aber noch nicht die Wirklichkeit oder den Gebrauch von Freiheit (vgl. Wildfeuer, 359). Denn dafür muss noch die innere Voraussetzung des Wollens und Ergreifens bestimmter Handlungsoptionen durch die handelnde Person gegeben sein. WillensfreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive) meint die mentale bzw. geistige Fähigkeit, durch bewusste Überlegungen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen mit Blick auf persönliche Ideale oder Wertvorstellungen eine Wahl zu treffen und die Verwirklichung der Handlungsziele einzuleiten (vgl. Fenner 2010, 56f.). Gemäß dem entscheidenden Kriterium der Urheberschaftsbedingung darf die Person nicht bloßer Spielball des Weltgeschehens sein, sondern muss selbst der Ursprung ihres Wollens und Handelns bilden (vgl. Wildfeuer, 360/BieriBieri, Peter, 20). Von Willensfreiheit kann also nur dann gesprochen werden, wenn sich jemand nicht einfach von inneren Faktoren wie Instinkten, Bedürfnissen und charakterlichen Neigungen oder äußeren sozialen Einflüssen leiten lässt, sondern von vernünftigen Gründen. Wie die Wahl letztlich ausfällt und welche Motive oder Wünsche am Ende handlungsleitend werden, muss entscheidend von der Person selbst und ihren Überlegungen abhängen. Während Handlungsfreiheit ein Anders-Handeln-Können meint, ist für Willensfreiheit wichtig, dass sich eine Person auch anders hätte entscheiden können. Ethische Reflexionen oder Theorien sind überhaupt nur sinnvoll, wenn eine solche Willensfreiheit der handelnden Personen vorliegt und sie entsprechend für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können. Während kein Mensch ein Recht auf maximale Handlungsfreiheit, sondern nur auf ein bestimmtes Minimum davon hat, wird jedem Menschen ein unverletzliches Recht auf Willensfreiheit und auf die damit verbundene Würde zugesprochen (vgl. Fenner 2008, 186ff.). Obgleich die Existenz der Willensfreiheit empirisch weder bewiesen noch widerlegt werden kann, muss sie in der Ethik vorausgesetzt werden. Auch in der Selbstoptimierungs-Debatte wird zwar heftig über Willensfreiheit oder -unfreiheit der Selbstoptimierer gestritten, ohne dabei aber die grundsätzliche Möglichkeit von Willensfreiheit in Frage zu stellen. Im Folgenden geht es daher nicht um empirisch-psychologische Fragen wie diejenige, wie der Wille als mentales Vermögen des Überlegens und Entscheidens eine Kausalkette in der raumzeitlichen Wirklichkeit in Gang setzen kann. Vielmehr geht es um die philosophisch-begriffliche Frage, wann genau einer Person Willensfreiheit zugesprochen werden kann.

      Aufschlussreich für das Verständnis des Phänomens menschlicher Willensfreiheit ist die Unterscheidung zwischen einem „Wünschen“ und einem „Wollen“ bzw. zwischen „Wünschen“ und „Zielen“: Das Wollen setzt ein Können voraus und ist mehr als ein bloßes Sich-Wünschen. Typisch für den Willen ist es, dass er im Gegensatz zum bloßen Wünschen etwas in der Realität in Bewegung setzt und das Handeln lenkt. Der Wille einer Person kann sich daher immer nur auf die tatsächlich offenstehenden Handlungsmöglichkeiten beziehen, sodass die Möglichkeiten des Wollenkönnens durch die oben genannten Beschränkungen der Handlungsfreiheit limitiert sind: durch die natürliche und soziale Wirklichkeit, die wir immer schon vorfinden und nicht kurzfristig und grundlegend umgestalten können, und durch interne bzw. innere Anlagen und Fähigkeiten, über die man bereits verfügt und die man lediglich in bestimmten Grenzen optimieren kann (vgl. BieriBieri, Peter, 38f.; 50f.). Wünschen hingegen kann man sich buchstäblich alles, z.B. die Welt zu verändern oder als Opernsängerin in der Mailänder Scala aufzutreten. WünscheWünsche sind grundsätzlich idealitätsorientierte Vorstellungen eines befriedigenden Zustandes, FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)die uns entweder das Gefühl der Fremdkontrolle oder des Getriebenseins vermitteln oder als realitätsfremde Phantasieprodukte sogar das Handeln lähmen (vgl. Fenner 2007, 60). Ganz anders verhält es sich mit realitätsorientierten ZielenZiele, die Gegenstand eines aktiven Wollens sind und mit der Erfahrung von Selbstkontrolle einhergehen. In der Motivationspsychologie wurde für den entscheidenden Übergang vom Wunsch zum Ziel bzw. vom Wünschen zum Wollen das „Rubikonmodell“ entwickelt und nach dem Fluss Rubikon benannt, den Cäsar 49 v.Chr. nach langem Abwägen überschritt und damit den Bürgerkrieg eröffnete (vgl. ebd./Rheinberg, 168f.): Entscheidend für das Überqueren des Rubikon ist der Prozess des Überlegens und Prüfens, ob sich die oft ganz spontan auftauchenden Wünsche unter den gegebenen Bedingungen überhaupt realisieren