Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen. Thomas Hülshoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hülshoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846348505
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sowie spezifische Stressinterventionen bzw. therapeutische Ansätze.

      Bei der Stressvermeidung gilt es zunächst festzustellen, welche Belastungen als besonders stresserzeugend erlebt werden. Generell sind eine Reihe von Faktoren und Lebensbedingungen der Moderne in besonderem Maße und überdurchschnittlich häufig stresserzeugend, beispielsweise die zunehmend erwartete Flexibilität und Mobilität im Berufsleben, permanente soziale Rollenveränderungen, physikalische Belastungen wie Lärm, Allergen- oder Umweltbelastungen, vor allem aber Arbeitslosigkeit und drohende Arbeitslosigkeit. Die aktive Vermeidung krankmachenden Stresses auch mithilfe professioneller Problemlösungen erfordert letztlich strukturelle Veränderungen. Das Arbeitsschutzgesetz, das Kündigungsschutzgesetz und eine Reihe anderer Maßnahmen auf struktureller und insbesondere gesellschaftspolitischer Ebene sind hier unerlässlich. Nur zum Teil kann auf der persönlichen Ebene hierauf Einfluss genommen werden. Immerhin kann man sich Stressoren bewusst machen, eine Reihe von Störreizen reduzieren (beispielsweise E-Mail-Benachrichtigungen deaktivieren), realistische Tagespläne erstellen, regelmäßige Arbeitspausen einlegen, in denen man auch sportliche oder entspannende Aktivitäten einplant, den Arbeitstag abschließen und die Arbeit nicht „mit nach Hause nehmen“, Aufgaben nach Wichtigkeit und Dringlichkeit kategorisieren, den eigenen Anspruch (Perfektionismus) herabsetzen, Aufgaben delegieren, sich ausgewogen ernähren und sich genügend Zeit beim Essen (außerhalb des Arbeitsplatzes) nehmen. All diese – und einige andere – Maßnahmen werden uns in Kapitel 2.4 (Burnout) noch einmal begegnen, wenn es darum geht, auch bei Krisenhelfern übermäßigen Stress und konsekutiven Burnout zu vermeiden.

      Stressabbau

      Beim Stressabbau ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Sport oder kontinuierliche, moderate körperliche Aktivität einen essenziellen Beitrag zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden leisten kann. Eine halbe Stunde Bewegung in angenehmer Umgebung bessert die Laune und das Selbstwertgefühl signifikant und kann Stress lindern. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten werden optimistischer wahrgenommen, im Sport können positive Emotionen und soziales Gemeinschaftsgefühl erlebt werden, die Konzentrationsfähigkeit wird verbessert, angestaute Energie abgebaut und das Immunsystem gestärkt. Zudem kann man sich von anderen Problemen distanzieren. Auf der physiologischen Ebene kann die Herz-Kreislauf-Situation verbessert, der Abbau von Catecholaminen sowie Cholesterin gefördert und die Durchblutung von Muskulatur und Organen verbessert werden. Hilft dem einen die Bewegung und (sportliche) Aktivität, bevorzugen andere eher ruhige Entspannungsmethoden, bei denen angestaute Energien frei und muskuläre Spannungen gelöst werden. Einige werden in Kapitel 2.3 (Komplementäre Ansätze in und nach Krisensituationen) vorgestellt.

      Coping- und Bewältigungsstrategien

      Coping- oder Bewältigungsstrategien können, wie bereits aufgezeigt, in problemlösende sowie emotionsregulierende Coping-Strategien eingeteilt werden. Im ersten Fall versucht man, die Verhältnisse und damit die Stressursachen zu meiden, zu verändern oder zu eliminieren. Im zweiten Fall kann nicht die Situation bzw. können nicht die Stressoren geändert werden, jedoch die emotionale Reaktion darauf.

      Eine Veränderung der Einstellung und damit eine Neubewertung stellt eine dritte Form des Copings dar. So kann man sich fragen, wie man selbst eine Situation sieht und wie andere sie sehen, und in einem gezielten Training, evtl. auch in Gruppenübungen, stressreduzierende Neubewertungen und Einstellungen einüben: Aus dem Postulat, alles allein bewältigen zu müssen, kann die Einstellung, um Rat zu bitten und etwas dazuzulernen, werden. Der Wunsch, von allen gemocht zu werden, kann umgewandelt werden in die Erkenntnis, es nicht allen recht machen zu können. Das Verbot, Fehler zu machen, kann zur Erkenntnis werden, dass Fehler menschlich sind. Das Vorurteil, andere seien besser oder intelligenter, kann abgelöst werden von der Erkenntnis, selbst liebenswert und tüchtig zu sein. Und anstatt bei sich oder bei anderen die Schuld für ein Problem zu suchen, kann man sich auf die Lösung des Problems konzentrieren.

      Soziale Unterstützung

      Dem sozialen Rückhalt und der sozialen Unterstützung kommt eine außerordentlich große Rolle bei der Stressbewältigung und Stressreduktion zu. Dabei kann soziale Unterstützung auf vier Ebenen stattfinden: Zum einen als emotionale Unterstützung (Zuneigung, Vertrauen, Zuspruch), zum anderen durch instrumentelle Unterstützung (konkrete Hilfen wie beispielsweise Hilfe im Haushalt, finanzielle Unterstützung etc.). Drittens können ihre Informationen hilfreich sein, ein Problem zu bewältigen, und zum Vierten sind bewertende Unterstützungen zu nennen, in denen Personen Wertschätzung oder Anerkennung entgegengebracht wird.

      Soziale Unterstützung kann auf mehreren Ebenen ansetzen. Im einfachsten Fall kann die soziale Unterstützung einen direkten Effekt auf das Stressgeschehen haben, wenn beispielsweise ein in seiner Arbeit überforderter Mensch konkret entlastet wird. Zum Zweiten kann soziale Unterstützung auch als eine Art Puffer verstanden werden, der in allgemeinerer Hinsicht stressreduzierend wirkt. Die Möglichkeit, mit Freunden gemeinsam zu wandern, zu singen, sich auszusprechen u. a. m. kann also ein Milieu bzw. einen Puffer schaffen, der mich andere Stressoren besser ertragen lässt.

      Zum Dritten kann man zwischen lebensbereichsinternen und lebensbereichsfremden Unterstützungsmodi unterscheiden. Lebensbereichsfremde Unterstützung (beispielsweise familiäre Hilfe bei arbeitsbedingtem Stress) wirkt in der Regel weniger stark als lebensbereichsinterne Unterstützung durch Arbeitskollegen.

      Neben den bisher genannten Krisen und Stressreaktionen gibt es aber auch schädigende Ereignisse, die als Traumen bezeichnet werden, die so massiv sind, dass sie zu einem sofortigen Zusammenbruch aller körperlichen und seelischen Instanzen führen, die zu einer Lösung beitragen könnten. Hiermit befasst sich das folgende Kapitel.

      Auf einen Blick

      ■ Während Eustress den Organismus zwar beansprucht, aber nicht überfordert, führt Dysstress aufgrund seiner Dauer, seines Ausmaßes sowie mangelnder Kompensationsmöglichkeiten zu emotionalen und körperlichen Überforderungen, Erschöpfung und ggf. zum Zusammenbruch.

      ■ Die Stadien des Dysstressgeschehens können in eine Alarm-, Anpassungs-(Adaptations-) und Erschöpfungsphase eingeteilt werden.

      ■ Auf der Sympathikus-Nebennierenmark-Achse der Stressreaktion kommt es unter Einwirkung von Adrenalin zur Flight-and-Fight-Reaktion.

      ■ Insbesondere bei chronischem Dauerstress kommt es unter Cortisol-Mitwirkung auf der Nebennierenrinden-Cortisol- Achse der Stressreaktion zunächst zur Anpassung an das Belastungsniveau, schließlich zur Erschöpfung.

      ■ Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell bildet die Grundlage zum Verständnis vieler, insbesondere psychischer und psychosomatischer Erkrankungen.

      ■ Man kann von problemorientierten, emotionsregulierenden und bewertungsorientierten Bewältigungs-(Coping-)Strategien sprechen.

      ■ Neben der Qualität und dem Ausmaß des Stressors spielen auch erlebte Bedeutung der Belastung (Herausforderung / challenge, Bedrohung / threat und Schädigung-Verlust / harmloss) sowie Selbstwirksamkeitserwartungen des Individuums eine Rolle bei Stressauswirkung und Stressbewältigung.

      ■ Selbstwirksamkeit, Resilienzfaktoren und Kohärenzgefühl sind zentrale Begriffe des Konzeptes der Salutogenese.

      Multiple-Choice-Fragen zu diesem Kapitel finden Sie unter testfragen. reinhardt-verlag.de

      Weiterführende Literatur

      Hildenbrand, B., Welter-Enderlin, R. (2012): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. 4. Aufl. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

      Hülshoff, Th. (2015): Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik. 3. überarbeitete Aufl. UTB / Reinhardt, München, Basel

      Hülshoff, Th. (2008): Das Gehirn. Funktionen und Funktionseinbußen. Eine Einführung für pflegende, soziale, pädagogische und Gesundheitsberufe. 3., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen,