Psychosoziale Intervention bei Krisen und Notfällen. Thomas Hülshoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hülshoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846348505
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& Ruprecht, Göttingen

      Meichenbaum, D. H. (1991): Intervention bei Anwendung und Wirkung des Stressimpfungstrainings. Huber, Bern

      1.3 Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung

      Posttraumatisches Belastungssyndrom

      Existenzielle Stressoren

      Solche existenziellen Stressoren liegen vor, wenn jemand Todesgefahr, Todesdrohung, akuter Bedrohung durch ernsthafte Verletzungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt war bzw. unmittelbarer Zeuge solcher Gewalt an anderen Menschen wurde.

      Dabei kann man zwischen natürlichen und menschengemachten Stressoren bzw. Katastrophen unterscheiden. Zum Ersteren gehören beispielsweise Erdbeben oder Flutkatastrophen, zu Zweiterem Krieg, Folter, sexueller Missbrauch etc. Zudem kann man einmalige, stressende Katastrophen, von denen viele Menschen betroffen sind, von solchen Stressoren unterscheiden, die gezielt eine einzige Person betreffen. Völkermord, Flucht und Vertreibung usw. sind menschengemachte Katastrophen, von denen aber tausende Menschen betroffen sind. Anders ist dies bei schweren Verkehrsunfällen, bei sexuellem Missbrauch, Kindesmisshandlung oder existenzieller Bedrohung durch individuelle Krankheiten, beispielsweise metastasierendem Krebs.

      Hyperarousal

      Die drei Kardinalsymptome der posttraumatischen Belastung, die sich über Jahre (mitunter sogar Jahrzehnte) zeigen können, sind die der Intrusion, der Übererregung, der emotionalen und kognitiven Belastung sowie der Vermeidung (Konstriktion). Die Übererregung (Hyperarousal) zeigt sich in allgemeiner Unruhe, Konzentrations- und Leistungsschwäche, plötzlichen und aggressiven Impulsdurchbrüchen sowie Übersprungshandlungen und temporärer Orientierungslosigkeit, all dies ohne einen unmittelbaren und einsichtigen Anlass und in deutlichem zeitlichen Abstand vom stressenden Ereignis. Die Betroffenen erschrecken häufig in unangemessener Weise, haben Schlafstörungen, zeigen sich häufig in für die Umwelt unverständlicher Weise besorgt und hypersensitiv, irritierbar oder von einer gereizten Grundstimmung. Selbst destruktives Verhalten kann hinzukommen.

      Intrusion

      Zusätzlich zu diesen Zeichen der Übererregung, die häufig die Grundhaltung und das Grundverhalten betroffener Menschen prägen, kommt es von Zeit zu Zeit, oft für die Betroffenen unvorhersehbar, zu Intrusionen, dem Wiedererleben des stressenden Ereignisses / der Katastrophe oder meistens Teilen dieser Katastrophe. Bestimmte Gerüche, Orte, Bilder, Worte oder Berührungen, Verhaltensweisen oder archetypische Bewegungen können an das Trauma erinnern und die gesamte traumatische Situation wieder heraufbeschwören.

      Flashback

      Diese unfreiwilligen vorübergehenden Erinnerungen können im Rahmen von Albträumen, aber auch in der Phase der Wachheit auftreten und werden als „Flashbacks“ bezeichnet. Sie führen in der Regel zu Panikattacken, Hilflosigkeit, allen Zeichen extremen körperlichen Stresses (wie z. B. erhöhtem Herzschlag und Blutdruck, Angstschweiß, Engegefühl, Hyperventilation und Luftnot etc.). Darüber hinaus zeigen sich manchmal dissoziative Reaktionen (die Betroffenen haben den Eindruck, nicht sie selbst zu sein, fühlen sich wie in einer traumhaften Situation, sind subjektiv ihren Ängsten und dem Stress sowie der aktuellen Situation scheinbar völlig hilflos ausgeliefert und haben keinen oder nur verminderten Zugang zu ihren kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten, die sie ansonsten bei der Lösung von Problemen einsetzen könnten).

      Konstriktion

      Das dritte Kriterium, die Vermeidung oder Konstriktion auslösender Trigger, ist als Versuch des Körpers und der Psyche zu verstehen, diese als extrem belastenden und existenzgefährdenden Situationen möglichst zu vermeiden. Psychische Abwehr, Verleugnung und Verdrängung können ebenso Zeichen eines Konstriktionsverhaltens sein wie Rückzug und Isolation, was zur sozialen Einsamkeit führt. Hinzukommen können zwanghaftes Verhalten (mitunter gepaart mit diffusen oder konkreten Ängsten), was die Lebensqualität und den sozialen Wirkungskreis erheblich einschränken kann, die eben schon beschriebene Dissoziation und vor allem Verhaltensweisen, die mit Betäubung oder Erstarrung einhergehen. Nicht zuletzt sind eine Reihe von Suchterkrankungen bei näherem Hinsehen durchaus auch als Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung zu identifizieren.

      Depersonalisation

      Und schließlich können kognitive und emotionale Veränderungen Ausdruck eines posttraumatischen Belastungsgeschehens sein. Dies gilt insbesondere für die Depersonalisationen, bei denen die Betroffenen sich als z. T. außerhalb befindliche Beobachter sehen, die abgelöst vom eigentlichen inneren Geschehen sind („Mir passiert das gerade nicht“, „Das ist ein Traum“).

      Derealisation

      Die Erfahrung der Unwirklichkeit des Geschehens oder einer gewissen Distanz („Das ist alles nicht real“) wird als Derealisation bezeichnet. Schwere Konzentrationsstörungen, scheinbar unkontrollierbare aggressive Durchbrüche, die eben schon beschriebene Isolation oder Depression tun ein Übriges, um die soziale Adaptationsfähigkeit, das adäquate emotionale Mitschwingen oder das Ausschöpfen der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Betroffenen zu erschweren und teilweise erheblich (vorübergehend) zu vermindern.

      Ursachen

      Im Folgenden soll auf mögliche Ursachen dieses dramatischen Geschehens eingegangen werden.

      Dabei gilt es, sich zunächst einmal grundsätzlich klarzumachen, dass eine ganz wesentliche Leistung unseres Gehirns darin besteht, auf gefährdende und mitunter lebensbedrohliche Situationen schnell und adäquat zu reagieren. Die synaptische Verschaltung unserer Hirnzellen erfolgt ein Leben lang in Reaktion und Interaktion mit äußeren, umweltbedingten Gegebenheiten, die das Gehirn über die Sinne registriert, interpretiert und – mehr oder weniger erfolgreich – so verarbeitet, dass das Individuum keinen oder möglichst geringen Schaden nimmt. Die so entstehende Verschaltung führt ihrerseits dazu, dass in ähnlichen Krisen- oder Gefahrenmomenten „schon eingefahrene Leitungsbahnen“ bereitstehen und damit Problemlösungsmodi oder Copingverhalten präjudiziert sind. Sie werden erst modifiziert oder umgeändert, wenn sie sich bei weiteren stressenden Ereignissen oder Traumen als unwirksam erweisen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass das Gehirn sich im Laufe eines Menschenlebens durch die Interaktion mit Geschehnissen in der Umwelt – insbesondere sozialen Situationen – fortwährend weiter strukturiert, wobei es sich als grundlegend plastisch erweist und uns lebenslanges Lernen und auch Umlernen ermöglicht. Andererseits hinterlassen eindrückliche Erlebnisse – und lebensbedrohliche Traumen gehören zu den eindrücklichsten Erlebnissen, die wir kennen – tiefe neuronale Spuren, was die synaptische Verschaltung und die Reaktion durch Hormone und Neurotransmitter angeht.

      An der entwicklungsgeschichtlich jüngsten, hierarchisch gesehen obersten Stelle unseres Gehirns, der Präfrontal- und insbesondere periokulären Kortex, sind wir in der Lage, auf einen extremen Stressor – beispielsweise eine wütende und von drohender Gewalt gekennzeichnete Auseinandersetzung – logisch, argumentativ und bis zu gewissen Grenzen auch deeskalierend zu begegnen. Dies geschieht in der Regel durch Worte, wenngleich Mimik, Gestik, Körperhaltung, Stimmklang und Drohgebärden eine starke emotionale Beteiligung signalisieren.

      Stereotypes Verhalten

      Ist die Gefahr bedrohlicher, und drohen wir erheblichen Schaden davonzutragen, so reagieren wir – zwar immer noch auf Kortexebene, aber schon „eine Ebene tiefer“ – in der Regel mit Stereotypen, also eingeschliffenen Verhaltensmustern, Vorurteilen, naheliegenden Vorwürfen, Handgreiflichkeiten u. a. m. Emotionales, fast schon reflexhaftes, jedenfalls nicht nur durch kognitive bewusste Entscheidungen geprägtes Verhalten gewinnt langsam die Oberhand.

      Fight-and-Flight-Reaktion

      Bei einer noch größeren, existenziellen Bedrohung werden Gefühle massiver Angst bis hin zur Panik sowie massiver Wut bis hin zur Aggressionsbereitschaft im limbischen System, insbesondere in der Amygdala, zum Teil durch hippocampale Strukturen generiert. Der Hippocampus wird auch als „die Pforte zum Gedächtnis“