Traumabedingte Spätfolgen
Eine von extremen Entbehrungen und körperlichen wie psychischen Gefahren geprägte Kindheit prädestiniert aus leicht vorstellbaren Gründen also für eine Reihe von Folgeschäden, die im Jugend- oder Erwachsenenalter als dissoziative Persönlichkeitsstörung, Borderline-Störung mit selbstverletzendem Verhalten, erhöhte Suchtgefährdung und Drogenabhängigkeit, Depression und Suizidalität bis hin zur psychotischen Vulnerabilität imponieren. Tatsächlich sind solche Erscheinungsformen möglicherweise aber nicht primär genuine psychiatrische Störungsbilder (obwohl sie es im Laufe der Zeit werden können), sondern Ausdruck einer tiefgreifenden, sequenziell in der frühen Kindheit angelegten posttraumatischen Belastungsstörung, die nicht zuletzt auch auf epigenetische Veränderungen der Genexpression und eine veränderte Herstellung von Proteinen, insbesondere Neurotransmittern und Hormonen, zurückzuführen ist.
Begleitung traumatisierter Menschen
Was bedeutet dies nun für Pädagogik, Therapie und soziale Begleitung traumatisierter Menschen?
Das Wissen um die neurobiologischen Vorgänge bei der Entstehung posttraumatischer Belastungsstörungen hat auf die Begleitung sowie Behandlung Betroffener einen großen Einfluss und ist in den letzten zwei Jahrzehnten z. T. erheblich erweitert worden. Zunächst einmal kommt es darauf an, angeblich pathologische (oder zumindest auffällige) Verhaltensweisen als normales Verhalten auf ein unnormales – möglicherweise schon lange zurückliegendes – traumatisches Ereignis zu verstehen. Allgemeine Unruhe, plötzliche aggressive Impulsdurchbrüche, das Vermeiden bestimmter Situationen u. a. m. können besser verstanden werden, wenn sie in den Kontext posttraumatischer Belastungen gesetzt werden. Das gilt selbst für Sekundärsyndrome wie selbstverletzendes Verhalten, chronisch empfundene Sinn- und Hoffnungslosigkeit oder Suizidalität als Ausdruck tiefster Verzweiflung. Auch sollte deutlich geworden sein, dass viele der zunächst unverständlich erscheinenden „emotionalen Durchbrüche“ (beispielsweise Panikattacken) verständlich werden, wenn man sie als Intrusionen nicht verarbeiteter Erlebnisse versteht. Auch Zwangsverhalten oder Phobien sowie Depersonalisationserscheinungen können besser verstanden und eingeordnet werden, wenn man sie als Schutzmechanismus vor sonst drohenden Intrusionen einordnet.
Zum anderen gelingt es erst dann, Resilienz- bzw. Schutzfaktoren zu analysieren und zu entdecken: Hierzu gehören beispielsweise erfolgreiche Bewältigungsstrategien, eine sichere Umgebung, sichere emotionale Bindungen zu Bezugspersonen, positive soziale Unterstützung etc. Deren Wichtigkeit wird erst dann deutlich, wenn man sich klar macht, welche destruktiven Potenzen eine posttraumatische Belastungsstörung hat. Das Wissen darum, dass jedes Verhalten einen „guten Grund“ (gut im Sinne von „sinnmachend“) hat, ermöglicht es, durch das Verstehen solcher Verhaltensweisen andere Alternativen zu suchen und zu finden.
Traumatherapie, Traumapädagogik
Eine der wesentlichen Erkenntnisse neurobiologischen Grundlagenwissens ist, dass vor einer Therapie die traumapädagogische Arbeit steht. Wenn wir unter Therapie das Bemühen verstehen, die traumatischen Ereignisse ins biographische Erleben und das Selbstbild des Betroffenen zu integrieren, so ist es Aufgabe traumapädagogischer Arbeit, zuvor dafür zu sorgen, dass der Betroffene trotz und mit seinen traumatischen Erfahrungen überhaupt lebens- und beziehungsfähig ist. Es hat sich seit Anfang 2000 gezeigt, dass diese traumapädagogischen Grundvoraussetzungen wesentlich wichtiger und notwendiger sind als eine therapeutisch-integrative Arbeit. Etwas überspitzt könnte man formulieren, dass man möglicherweise ohne Traumatherapie einigermaßen zurechtkommen kann, ohne eine pädagogisch begleitete Konsolidierung hingegen auf keinen Fall.
Grundlage allen pädagogischen Handelns ist das Herstellen von Sicherheit, die Reduktion und das Vermeiden von Stress, die Unterstützung von Entwicklung von Bindung und von positiven Selbsthilfen sowie die Orientierung an den Ressourcen des Einzelnen.
Safety first
„Safety first“ meint, dass die atmosphärischen Bedingungen sowie die strukturelle Klarheit unabdingbare Voraussetzungen zu einem Sicherheit gebenden Verhalten sind. Dies gilt insbesondere für sequenziell politraumatisierte Kinder und Jugendliche. Am wichtigsten ist es, sicherzustellen, dass sie keinerlei Sorgen vor erneuter Gewaltanwendung und Retraumatisierung haben müssen. Konkret heißt das, dass sie eindeutig und sicher vor Tätern geschützt werden müssen, dass das Kindeswohl vor allem andern, ggf. auch vor den Wünschen der Eltern steht, wenn Retraumatisierungen (wiederholte Vergewaltigung etc.) zu befürchten sind und dass die Entwicklung in Kindheit und Jugend unter geschützten Maßnahmen in einer wertschätzenden und Geborgenheit vermittelnden Atmosphäre verlaufen soll. Dabei reicht es nicht aus, dass eine Retraumatisierung vermieden wird – genauso wichtig sind feste und belastbare Beziehungen, die selbst dann greifen, wenn es beispielsweise intrusionsbedingt zu erheblichem eigen- oder fremdgefährdenden Verhalten kommt. Dazu gehört eine intensive Begleitung gerade auch in rezidivierenden Krisen, was einen hohen Personalschlüssel sowie eine qualifizierte Ausbildung der Pädagogen (einschließlich Supervision) erfordert. Traumapädagogik setzt Feinfühligkeit, Präsenz, angemessene Beantwortung von Signalen, Unterstützung bei der Stressregulation, sprachliche Interaktion und Resonanz, die Fähigkeit, Empathie zu empfinden und angemessen zu zeigen sowie Geduld und Selbstreflexion voraus. Der Umgang mit Krisensituationen, ein Aufflackern von traumatisierten Inhalten im Sinne von Flashbacks usw., erfordert zudem ein hohes Maß methodischer Kompetenz – wenn es beispielsweise darum geht, autoaggressiven Verhaltensweisen oder Depersonalisationsphänomenen durch Musik oder andere sensorische Reize (scharfe Gewürze, Massagen mit Duftöl, habituierte, Sicherheit gebenden Verhaltensweisen etc.) zu begegnen.
Distanzierung und Selbstberuhigung
Es gibt zahlreiche Strategien zur Distanzierung und Selbstberuhigung wie beispielsweise Atemübungen, Körperübungen, Techniken zur Ablenkung usw., deren Anwendung allerdings eine intensive pädagogische Ausbildung und vor allem die angemessene Berücksichtigung des situativen Kontextes sowie der biographischen Vorerfahrung der Jugendlichen bedarf. Dies gilt auch für das Einüben bestimmter Ressourcen bzw. Skills, die es dem Jugendlichen ermöglichen, trotz und mit seiner immer wieder auftretenden Schwierigkeiten eine angemessene kognitive, emotionale und insbesondere soziale Entwicklung zu nehmen.
Alltags-Skills
Alltags-Skills (Geschirr abwaschen, Körperpflege, Ernährung, Auseinandersetzung in Gruppen) sind Aufgaben aller Jugendlichen, können aber beim Vorliegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms erheblich erschwert sein. So kommt dem Krisenmanagement und der Unterstützung von Stressregulation eine besondere Bedeutung zu. Hierbei ist es notwendig, komplexe Flashback-Situationen mit Dissoziation, körperlicher Erregung, Erstarrung etc. zunächst einmal überhaupt zu erkennen und sodann durch eine gezielte Kontaktaufnahme, Aktivierung der Reorientierungskräfte, gezielte Aufklärung und Kontaktregulation dem Betroffenen zu helfen, diese schockähnliche Flashback-Situation zu bewältigen. Hierzu gibt es inzwischen gut elaborierte,