Abb. 1.2.2: Das Stress-Vulnerabilitätsmodell, dargestellt am Beispiel der Depression (Hülshoff 2011, 313)
Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese
Die sog. Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese, die sich einem bio-psychosozialen Krankheitsmodell verpflichtet fühlt, geht beispielsweise davon aus, dass eine Reihe von körperlichen, aber auch psychischen Erkrankungen auf ein interaktionales Geschehen von frühen Verletzungen und damit einhergehender Verletzbarkeit / Vulnerabilität und hinzukommenden Stressoren zurückzuführen ist.
Darüber hinaus gibt es offensichtlich Zusammenhänge zwischen Hormonen, Neurotransmittern, Nervenaktionen und psychischem Erleben, die sich im Stressgeschehen unheilvoll ergänzen und verdichten können.
So gibt es enge Wechselwirkungen zwischen psychischen Phänomenen (also Gefühlen, Vorstellungen und kognitiven Prozessen, die in unserem Gehirn repräsentiert werden), neurologischen Phänomenen, die sich als Aktivität unseres Nervensystems beschreiben lassen, endokrinen Prozessen, die durch Hormonausschüttungen charakterisiert sind, und immunologischen Prozessen, die maßgeblich von den Zellen unseres Abwehrsystems abhängen und dafür sorgen, dass wir uns vor pathogenen Keimen schützen können. Nach neueren Erkenntnissen gibt es zwischen diesen Systemen zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge. Nicht nur das Gehirn lernt, sondern auch das Immunsystem, und über die Kopplung von Transmittern und Hormonen sind beide Systeme miteinander verbunden. So sind z. B. Hormone, auch Stresshormone, wichtige Bindeglieder zwischen psychischem Erleben, neuronalen Aktivitäten und Organfunktionen. Dazu gehören die Catecholamine Adrenalin und Noradrenalin sowie Kortisol und die Opiate Endorphin und Enkephalin (die zur Schmerzabwehr im Stressgeschehen beitragen), die sich alle stark auf das Immunsystem auswirken. Noradrenalin tritt im Gehirn als Neurotransmitter, in der Peripherie als Hormon auf.
Erschöpfung und Depression
Kortisol wirkt nicht nur suppressiv auf das Immunsystem, sondern ändert auch das psychische Erleben (in Richtung Depressivität). Auch die Funktion, ja sogar die Feinstruktur bestimmter Hirnareale kann sich unter langjährigem Einfluss von Hormonen und Neurotransmittern verändern.
Die hier nur angedeuteten Zusammenhänge lassen erahnen, warum beispielsweise eine Erschöpfungsdepression immer ein psychisches und somatisches Geschehen ist, das sich nicht nur in Niedergeschlagenheit, Avitalität, Lustlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und anderen psychischen Erscheinungen äußert, sondern ebenso sehr auch in körperlichen Funktionsstörungen, beispielsweise Schlafstörungen, Erschöpfung, Abwehrschwäche, erhöhter Krankheitsanfälligkeit u. v. m. Wie sehr stressende Lebensereignisse die Gesundheit beeinflussen können, zeigt auch eine Untersuchung des Psychiaters Holmes aus den 1960er-Jahren, dem aufgefallen war, dass dem Ausbruch verschiedener Erkrankungen sehr häufig eine Summierung einschneidender Veränderungen in Lebenssituation der Betroffenen vorausgegangen war, z. B. ein Wechsel des Arbeitsplatzes, Änderungen der Familiensituation (Scheidung etc., Holmes / Rahe 1967). Hieraus wurde die Hypothese abgeleitet, dass die krankheitsfördernde Belastung abhängig sei von vorausgegangenen einschneidenden Lebensereignissen, die man als „life-events“ bezeichnete, und die subjektiv als stressauslösend und sehr krisenhaft erlebt wurden. Bei der Erfassung (durch Fragebögen) solcher Belastungen und ihrer Bedeutung für die Stressreaktionen schienen die Trennung von Ehepartnern besonders stressauslösend zu sein, doch wurden zahlreiche andere stressende Lebensereignisse beschrieben (Holmes / Rahe 1967). An Stressoren im Zusammenhang mit Herzkrankheiten sind beispielsweise in erster Linie Lebensunzufriedenheit, insbesondere Unzufriedenheit im Beruf, gefolgt von Situationen der Verlassenheit, dem Verlust enger Bezugspersonen sowie berufliche Unsicherheit zu nennen. Allerdings stellte sich heraus, dass nicht nur die Belastung an sich, sondern vor allem die Tatsache, ob und wie Menschen diese Belastungen bewältigen konnten, ausschlaggebend dafür war, ob und in welcher Weise sich Krankheiten einstellten.
Stress und psychische Erkrankung
Im Hinblick auf Krisensituation und Krisenbewältigung ist vor allem auf affektive Störungen bzw. Erkrankungen hinzuweisen. So geht chronischer Stress oft mit erhöhtem Angstpegel einher, wobei unter Angst ein Grundgefühl zu verstehen ist, das sich als in besonders bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und Unlust betonte Erregung äußert. Dabei kann es zu Angststörungen im Sinne einer krankhaft übersteigerten Angst, zu zunehmenden sozialen Ängsten bis hin zur Isolation und Vermeidung sozialer Kontakte und zu Leistungsängsten bis hin zu Leistungsversagen kommen. Zum anderen ist an alle Formen einer chronischen oder akut auftretenden Depression zu denken, insbesondere an eine Erschöpfungsdepression, aber auch an verschiedene Formen eines Burnout-Syndroms. Hierauf wird in Kapitel 2.4 (Burnout) vertiefend eingegangen.
Erlernte Hilflosigkeit (Seligman)
Vor allem das Konzept der „erlernten Hilflosigkeit“ des Psychologen Martin E. P. Seligman (1979) ist hier zu nennen. Bei erlernter Hilflosigkeit erwartet ein Individuum, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren oder beeinflussen zu können – was insbesondere nach chronischem Dysstress die Folge ist. Das Individuum engt sein Verhaltensrepertoire ein, und eine solche Selbstbeschränkung bzw. Passivität führt in einem Circulus Vitiosus zu erneuten Erfahrungen von Hilf- und Machtlosigkeit sowie subjektivem Kontrollverlust.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um potenzielle Zusammenhänge zwischen chronischem, überfordernden Dysstress, zunehmender Unfähigkeit, Krisen zu lösen, und erhöhter Krankheitsbereitschaft zu erläutern.
Transaktionales Stressmodell nach Lazarus
Die gesamte Diskussion zur Stressentstehung und -verarbeitung sollte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis heute im Wesentlichen durch den Psychologen Richard Lazarus geprägt werden, der 1974 das von ihm entwickelte transaktionale Stressmodell vorstellte. Er war der erste, der eindeutig postulierte, dass nicht nur die objektive Beschaffenheit einer stressauslösenden Situation für eine Stressreaktion von Bedeutung ist, sondern vor allem auch deren subjektive Bewertung durch den Betroffenen. Dabei unterschied er mehrere Stufen der Bewertung. Bei der primären Bewertung (primary appraisal) können Situationen als positiv, unbedeutend / irrelevant oder potenziell gefährlich und damit stressend bewertet werden, wobei die Bewertung drei Stufen erkennen lässt: Eine Herausforderung (challenge) liegt in Situationen vor, die als bewältigbar erscheinen, bei einem zu erwartenden Schaden spricht man von Bedrohung (threat) und von einer Schädigung / Verlust (harm / loss) spricht man, wenn der Schaden bereits eingetreten ist (Lazarus 1974). Mit anderen Worten: Wie sehr etwas belastet, hängt davon ab, wie einschneidend und wie wichtig die Belastung für das weitere Leben des Betroffenen ist. Außerdem wird subjektiv bewertet, welche Bewältigungsmöglichkeiten den Menschen zur Verfügung stehen. Als stressend wird ein Ereignis erst dann erlebt, wenn der Betroffene keine adäquate Möglichkeit mehr sieht, mit der Belastung fertig zu werden. In einer sekundären Bewertung (secundary appraisal) wird also überprüft, ob die Situation mit den verfügbaren Ressourcen zu bewältigen ist (Lazarus / Folkmann 1984).
Der Umgang mit einer Bedrohung und der Versuch, selbige zu bewältigen, werden als Coping bezeichnet. Hierbei unterscheidet man problemorientiertes, emotionsorientiertes sowie bewertungsorientiertes Coping.
Problemorientiertes Coping
Problemorientiertes Coping liegt vor, wenn ein Mensch in einer extremen Belastung das Problem direkt angeht. In diesem Fall wird er versuchen, die belastenden Faktoren auszuschalten, sie zu umgehen oder durch persönliche gezielte Problemlösungen die Ursache des Stresses zu bewältigen. Dabei kann die Situation sowohl allein durch persönliche als auch durch kollektive Bewältigungsmöglichkeiten (soziale Unterstützung, soziales Netzwerk, soziale Integration) gemeistert werden.
Emotionsregulierendes Coping
Eine andere Form der Stressbewältigung wird als „emotionsregulierendes Coping“ bezeichnet, das sich vorwiegend darauf