Da sich Großflächenstaaten jedoch nicht durch Zusammenkunft und öffentliche Diskussion der ganzen Bürgerschaft regieren und verwalten lassen, setzte ihnen Rousseau – inspiriert durch die erfolgreichen demokratischen Experimente in seiner Heimatstadt Genf – die Vision von kleinen und überschaubaren, direktdemokratisch organisierten Gemeinwesen nach dem Vorbild der antiken Polis entgegen, in denen die Bürger ihr tatsächliches Wollen (volonté de tous) dem allgemeinen Willen (volonté générale) angleichen, sich die Maximen der Vernunft zu eigen machen und in den Dienst des Gemeinwesens stellen, ihr privates Interesse dem der Allgemeinheit unterordnen, die Privateigentumsordnung revolutionieren und sich selbst durch eine naturgemäße Sozialisation, durch Partizipation und politisches Engagement zur Mündigkeit erziehen. Voraussetzung der Demokratie seien 1. ein sehr kleiner Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder jeden Bürger kennt; 2. eine große Einfachheit der Sitten und 3. fast vollkommene Gleichheit in Bezug auf Stand und Vermögen. Soll sie realisiert werden, müssten folglich die bestehenden Staaten zerschlagen werden. An ihre Stelle hätten kleine, überschaubare Einheiten zu treten, in denen die Vermögensunterschiede aufzuheben und die Einzelnen durch eine angemessene Erziehung zu natürlicher Sittlichkeit zu befähigen wären. Rousseau selbst äußerte gelegentlich Zweifel hinsichtlich der Praktikabilität der Demokratie. Seine demokratischen Ideen wurden jedoch in der Französischen Revolution von den Jakobinern aufgegriffen, die in der Nationalversammlung die Auffassung vertraten, nur eine direkte Demokratie ermögliche eine adäquate Repräsentation, d. h. Darstellung oder Vergegenwärtigung des Volkswillens.
Anmerkungen
1 1 Wie Max Weber im Zuge seiner religionssoziologischen Forschungen feststellen konnte, sind die vorderasiatischen Erlösungsreligionen „fast ausnahmslos Folgeerscheinung der erzwungenen oder freiwilligen Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung“. Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen 1972, 2. Teil, Kap. V.: „Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)“, S. 245-381; hier: S. 306 f. Siehe dazu auch Hans G. Kippenberg: Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft. Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen 1988. Frankfurt/M. 1991.
2 2 Vgl. Hans Baron: Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance (1988). Berlin 1992; ders.: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. 2 Bde. Princeton/N. J. 1955; John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton/N. J. 1975; ders.: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Frankfurt/M./New York 1993; Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. Bd. 1: The Renaissance. Cambridge 2002.
3 3 Vgl. Herfried Münkler: Die Idee der Tugend. Ein politischer Leitbegriff im vorrevolutionären Europa. In: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 379-403; ders.: Die politischen Ideen des Humanismus. In: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 2. München/Zürich 1993, S. 553-613.
4 4 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29, 516 ff., 821 ff., passim.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2039
Marsilius von Padua: Die Idee der Volkssouveränität
Ausgewählt und interpretiert von Klaus Roth
Der Verteidiger des Friedens (1324)
§ 3 Wir aber wollen sagen, wie es der Wahrheit und dem Rate des Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 6 entspricht: Gesetzgeber oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit (pars valencior) durch ihre Abstimmung oder Willensäußerung, die in der Vollversammlung der Bürger in einer Debatte zum Ausdruck gekommen ist; diese Mehrheit schreibt vor oder bestimmt unter zeitlicher Buße oder Strafe, daß im Zusammenleben der Menschen etwas getan oder unterlassen werden soll: die Mehrheit, sage ich – unter Berücksichtigung der Zahl und Bedeutung der Personen –, in jener Gemeinschaft, für die das Gesetz gegeben wird, mag die vorhin genannte Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit das selbst unmittelbar erledigen, mag sie es einem oder einigen zur Erledigung überweisen, die an und für sich nicht Gesetzgeber sind und es nicht sein können, sondern nur zu einem bestimmten Zwecke und nur manchmal und nur kraft Ermächtigung durch den primären Gesetzgeber. Im Anschluß daran sage ich: Durch dieselbe primäre Instanz, nicht eine andere, müssen die Gesetze und alle Abstimmungsergebnisse die notwendige Bestätigung ihrer formalen Korrektheit erhalten, was es auch mit gewissen Zeremonien oder Feierlichkeiten für eine Bewandtnis haben mag, die zum Sein des Abstimmungsergebnisses nicht erforderlich sind, sondern nur zum Gutsein, und ohne die die Abstimmung auch gültig wäre; ferner: von derselben Instanz müssen die Gesetze und alle Abstimmungsergebnisse Zusätze, Streichungen oder völlige Änderung, Auslegung und Aufhebung erfahren nach dem Erfordernis von Zeit, Ort und anderen Umständen, sofern sie eine derartige Maßregel zum Nutzen der Gesamtheit in solchen Dingen zweckmäßig erscheinen lassen. Dieselbe Instanz muß die Gesetze nach ihrer Annahme auch veröffentlichen oder verkünden, damit kein Bürger oder Fremder beim Verstoß gegen sie sich mit deren Unkenntnis entschuldigen kann. § 4 Bürger nenne ich nach Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 1, 3 und 7, wer in der staatlichen Gemeinschaft an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, je nach seinem sozialen Rang. Diese Beschreibung schließt von den Bürgern die Knaben, die Sklaven, die Fremden und die Frauen aus, wenn auch in verschiedenem Sinne. Denn Knaben von Bürgern sind künftige und potentielle Bürger, nur genügt das Alter noch nicht. Die Mehrheit aber muß man auffassen nach der guten Gewohnheit der Staaten, oder man muß sie bestimmen nach der Meinung des Aristoteles Pol. B. 6, Kap. 2.
§ 5 Nachdem nun Bürger und Mehrheit der Bürger in dieser Weise bestimmt ist, wollen wir zu unserem Thema zurückkehren, dem Nachweis, daß die menschliche Befugnis zur Gesetzgebung allein der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zukommt. Das werden wir zuerst so zu erschließen versuchen: Dem allein steht die primäre menschliche Vollmacht, Gesetze zu geben oder zu schaffen, schlechthin zu, von dem allein die besten Gesetze ausgehen können (OS). Nun ist das die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit, die die Gesamtheit vertritt (US); denn es ist nicht leicht oder geradezu unmöglich, daß alle Personen sich zu einer Meinung zusammenfinden, weil gewisse Leute mit Blindheit geschlagen sind und aus persönlicher Bosheit oder Unwissenheit von der allgemeinen Meinung abweichen; deren unvernünftiger Einspruch oder Widerspruch darf die Wahrnehmung der Interessen der Allgemeinheit nicht beeinträchtigen oder unmöglich machen. Also kommt es der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit ausschließlich zu, Gesetze zu geben oder zu beschließen (SS).
Der Obersatz (OS) dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich, obwohl man aus I 5 seine Geltung beweisen und letzte Gewißheit entnehmen kann. Den Untersatz (US), daß nur, wenn das ganze Volk den Vorschlag gehört und gutgeheißen hat, ausschließlich das beste Gesetz gegeben werden kann, beweise ich, indem ich mit Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 7 die Voraussetzung mache, am besten sei das Gesetz, das für das Gemeinwohl gegeben ist. Daher hat er gesagt: