§ 6 Weiter zum Haupt-Schlußsatz! Dem kommt ausschließlich die Gesetzgebung zu, der dadurch bewirkt, daß die gegebenen Gesetze am besten oder ausnahmslos befolgt werden (OS). Das ist ausschließlich die Gesamtheit der Bürger (US). Also kommt ihr ausschließlich die Gesetzgebung zu (SS). Der Obersatz dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich; denn zwecklos wäre ein Gesetz, wenn es nicht befolgt würde. Daher sagt Aristoteles Pol. B. 4, Kap. 7, 118: Eine gute gesetzliche Ordnung besteht nicht, wenn die Gesetze gut gegeben sind, aber keinen Gehorsam finden. Dasselbe hat Aristoteles B. 6, Kap. 5 desselben Werkes festgestellt: Es hat keinen Wert, wenn Entscheidungen über das, was gerecht sein soll, gefällt werden, diese aber nicht zum Ziele kommen. Den Untersatz beweise ich so: Das Gesetz befolgt jeder Bürger am besten, das er glaubt sich selbst auferlegt zu haben (OS). Dies gilt für das Gesetz, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit der Bürger es angehört und gutgeheißen hat (US). Der Obersatz dieses Vor-Schlusses ist fast unmittelbar einsichtig: Weil nämlich der Staat eine Gemeinschaft freier Männer ist, wie Pol. B. 3, Kap. 4 steht, muß jeder einzelne Bürger frei sein und nicht eines anderen Tyrannei, d.h. Knechtschaft, tragen. Das wäre nicht der Fall, wenn ein einzelner oder eine Minderheit von Bürgern ein Gesetz gäben aus eigener Vollmacht für die Gesamtheit der Bürger; wenn sie nämlich so Gesetze gäben, wären sie Tyrannen der anderen, und darum würden die übrigen Bürger, die Mehrzahl, ein solches Gesetz, wäre es auch noch so gut, mit Unwillen oder gar nicht hinnehmen, in dem Gefühl, verachtet zu sein, dagegen Einspruch erheben und, da sie nicht zur Beschlußfassung darüber gerufen waren, es in keiner Weise befolgen. Ein Gesetz jedoch, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit es angehört und ihre Zustimmung gegeben hat, wäre es auch weniger nützlich, würde jeder Bürger leicht befolgen und hinnehmen; denn jeder hat dann das Gefühl, es für sich selbst beschlossen zu haben, und hat darum keinen Anlaß, dagegen Einspruch zu erheben, sondern vielmehr Anlaß, sich in Ruhe damit abzufinden. – Ferner, den Untersatz des ersten Schlusses beweise ich von einem anderen Gesichtspunkt aus so: Der ausschließlich hat Macht über die Befolgung der Gesetze, der eine zwingende Gewalt gegen die Übertreter besitzt; das ist die Gesamtheit oder deren Mehrheit: also steht ihr allein die Gesetzgebung zu.
Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auswahl aufgrund der Übersetzung von Walter Kunzmann und der Bearbeitung von Horst Kusch mit einem Nachwort von Heinz Rausch. © Stuttgart: Reclam 1971, I. Teil, Kapitel XII, §§ 3-6, S. 52-56
Interpretation
Der Beitrag des Marsilius von Padua (ca. 1275/80 bis ca. 1342) zur Genealogie der Demokratie ist umstritten. Gegen die ältere Interpretation, die ihn zum Klassiker der modernen Demokratietheorie, zum Radikaldemokraten und Vorläufer Rousseaus stilisiert hatte (Otto von Gierke u.a.), wurde von der jüngeren Forschung zu Recht eingewandt, dass die von ihm begründete Theorie der Volkssouveränität noch nicht zur heutigen, auf Freiheit und Gleichheit aller einheimischen Männer und Frauen basierenden Idee der Volksherrschaft führte, sondern der mittelalterlichen Ständeordnung verhaftet blieb, in der allein die oberen Stände herrschten und Anteil an der Regierung hatten. Dieser Einwand bleibt jedoch fadenscheinig. Auch in der antiken Demokratie waren Frauen, Sklaven und Metöken von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Und noch im 18. und 19. Jahrhundert galt als selbstverständlich, dass nicht alle in einem staatlichen Territorium lebenden Menschen Stimmrecht haben, also „Staatsbürger“ und nicht bloße „Staatsgenossen“ sind. Vorausgesetzt war Bildung und Besitz. Sowohl Gesellen, Dienstboten, Unmündige, „alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit“, bemerkte Immanuel Kant, dessen republikanische Gesinnung von niemandem in Zweifel gezogen wird, lapidar und apodiktisch [Metaphysik der Sitten (1797), I. Teil, § 46, Anm.]. Die Leistung des Marsilius wird deshalb durch ihre mittelalterlichen Schranken kaum geschmälert. Obgleich er kein allgemeines, freies und gleiches Wahlrecht für alle erwachsenen Menschen begründet hat, bleibt der Defensor pacis (1324) ein Meilenstein in der Entwicklung des europäischen Politikdenkens, ohne den die moderne Demokratietheorie schwerlich in Gang gekommen wäre.
Die spätmittelalterliche Gesellschaft war zerrissen. Seit dem hohen Mittelalter tobte der Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium, Kaiser- und Papsttum, Reich und Kirche sowie zwischen den beiden universalen Mächten und den partikularen Kräften (westeuropäische Monarchien, aufstrebende Städte), die sich selbst zu regieren und verwalten gedachten, keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkannten (superiorem in temporalibus non recognoscens) und sich selbst als „Kaiser“ in ihren Reichen verstanden (rex in regno suo imperator est). Das Kaisertum wurde nicht nur vom Papsttum, sondern auch von den Königen, Fürsten und vom städtischen Bürgertum attackiert. Gegen die ungeheuere Besitz- und Machtanhäufung der geistlichen Würdenträger, die Verfilzung von Religion und Politik und die Verkrustung der feudalen Herrschaftsverhältnisse wandten sich religiöse Protest- und Erneuerungsbewegungen, die sich auf die urchristlichen Werte zurückbesannen, ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit, Bescheidenheit und Armut, in Gottes- und Nächstenliebe propagierten und durch ihre nachhaltige Wirkung auf breite Bevölkerungskreise heftige Konflikte provozierten, die im sog. Armutsstreit (1316-34) kulminierten. Zu den politischen gesellten sich theoretische Spannungen. Durch die Kreuzzüge waren die Europäer mit der fortgeschrittenen und weit überlegenen arabischen Kultur konfrontiert worden, die das Bemühen um Nachahmung und Einholung stimulierte. Vermittelt über arabische Quellen (Avicenna und Averroës) wurde dem Westen erstmals das Gesamtwerk des Aristoteles – einschließlich der praktischen Philosophie – erschlossen, das die seitherigen Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten infrage stellte und die Welt mit neuen Augen zu sehen lehrte. Die Aristoteles-Rezeption, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzte, brachte das christliche Weltbild ins Wanken und erzwang eine Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen sowie neue Reflexionen über die Welt und die Stellung des Menschen in ihr.
Ein neues Selbstverständnis brach sich Bahn, ein weltimmanentes Denken rivalisierte mit dem Gedanken der Transzendenz und sollte ihn schließlich verdrängen. Der Aristotelismus schien ohne den Glauben an den einen und einzigen Gott auszukommen und setzte eine neue Gelassenheit an die Stelle der christlichen Furcht. Der Mensch galt nicht mehr unbesehen als sündhaft, sondern als ein mit Verstand und natürlichen Bedürfnissen ausgestattetes Lebewesen, als animal rationale et sociale. Die natürliche Ordnung erlangte Eigenbedeutung innerhalb der Gnadenordnung, die irdische Herrschaft wurde künftig nicht nur durch Bezug auf Gott, sondern auch auf die Beherrschten legitimiert. Die menschlichen Gemeinschaften – von der Familie über die Nachbarschaft, das Dorf und die Stadt bis hin zur Provinz und zum König- oder Kaiserreich – wurden nun – neben der Kirche – als „natürliche“ Einheiten eigenen Rechts konzipiert. Kein Wunder, dass sich die Theologen vehement gegen den Einbruch der Philosophie in ihr eigenes Territorium und gegen die Brechung ihres Deutungsmonopols wehrten. Doch blieb ihr Abwehrkampf letztlich vergebens. Verketzerungen und Verbote nützten wenig. Das politische Denken emanzipierte sich nach und nach aus den Fesseln der christlichen Theologie.
Eine Synthese zwischen christlichem und aristotelischem Denken war Thomas von Aquin (1225-74) gelungen,