Susanne hatte den Ernst der Lage nicht erkannt, denn sonst hätte sie ihn nicht mit Urlaubsplänen behelligt, aber wie sollte sie auch verstehen, wie das war, wenn man am Abgrund stand. Der Schweiß lief ihm in Bächen den Rücken runter. Seinen Angestellten hatte er bereits vor Wochen gekündigt, jedoch rief der eine oder andere noch an und erinnerten ihn an die offene Lohnzahlung. Freunde aus seiner Studentenzeit, darunter sein Freund Michael, hatten ihm vertraut. Es war zum Verzweifeln. Sie alle hatten viel Geld verloren. Zum Golfplatz nach Groß-Zimmern traute er sich nicht mehr. Der heiße Tipp seines »Insiders« hatte auch den einen oder anderen Golffreund schmerzlich getroffen. Irgendwie musste er schleunigst an Geld kommen.
2
Susanne war tief getroffen. Es war das erste Mal gewesen, dass Dirk dermaßen ausfällig geworden war. Sie musste sich setzen. Seit über fünf Jahren kannte sie nur einen charmanten, aufmerksamen und äußerst kultivierten Dirk, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Er musste wirklich in großen Schwierigkeiten stecken, anders war seine Reaktion nicht zu erklären. Seit einiger Zeit war er oft mürrisch und schnell gereizt. Als sie seine finanziellen Schwierigkeiten einmal zum Thema machen wollte – sie hätte ihn leicht unterstützen können – wies er sie mit den Worten:
»Da wir Gütertrennung vereinbart haben, gehen dich meine finanziellen Sorgen nichts an«, brüsk zurück. Danach sprach sie das Thema nicht mehr an. Dieser Angriff jedoch am Telefon war eindeutig zu viel für sie. Egal, welche Schwierigkeiten er hatte, es gäbe ihm nicht das Recht, so mit ihr zu reden. Sollte er ruhig in Darmstadt bleiben, sie würde mit Katie einige Tage auf der Insel Usedom verbringen. Ein wenig frische Luft und Erholung hatte sie sich wahrlich verdient. In ihrem Telefonbuch war die Nummer des Grand Hotels in Heringsdorf gespeichert, mit ein wenig Glück würde sie morgen ihr Abendessen auf der wunderschönen Terrasse einnehmen und den Sonnenuntergang genießen. Abstand würde ihr und Dirk sicher guttun. Sie nahm ihr Handy zur Hand und wählte die Telefonnummer des Hotels, als ihre Sekretärin mit der Unterschriftenmappe in ihr Büro trat. Frau Krüger erwähnte die verbale Attacke ihres Mannes mit keiner Silbe, aber an ihrem Gesicht konnte Susanne sehen, dass sie alles gehört hatte. Sie hing mit ihrem Telefonat in der Warteschleife und sagte zu Frau Krüger, die gerade wieder das Büro verlassen wollte:
»Gut, dass Sie mich an Usedom erinnert haben, die ganze Zeit wollte ich schon buchen, aber ständig kam etwas dazwischen. Können Sie bitte die Damen und Herren der Marketingabteilung informieren, dass das Meeting am Freitag ausfällt. Ich denke, wir alle haben die letzten Wochen genug geschuftet und können die Sitzung verschieben. Ich bringe heute noch die wichtigsten Sachen zu Ende, und morgen früh fahre ich direkt los.«
3
»Kommen Sie herein.« Anstaltsleiter Richard Meurer, der zuständige Beamte für Frank Hattinger, saß in seinem Büro und winkte Maria zu sich heran. Auf einem kleinen Tisch neben der Tür lag eine Ausgabe der aktuellen Tageszeitung. Als Maria beim Schließen der Tür einen Blick darauf warf, entdeckte sie ein Foto von Meurer mit einem anderen Mann. Beide lächelten zufrieden in die Kamera. Darunter stand: »Rotarier spenden 10.000 Euro für einen Kindergarten.« Maria war verblüfft, lächelnd hatte sie Meurer noch nie gesehen. Zynische Bemerkungen und abwertende Blicke waren eigentlich sein Markenzeichen. Ein Chef, der gefürchtet wurde, nicht respektiert. Der Flurfunk besagte, dass er als Jurist innerhalb der Justiz Karriere machen wollte. Das hessische Ministerium der Justiz war sein Ziel. Jedoch hatte er bis dato den Sprung dorthin nicht geschafft. Richard Meurer war arrogant und ließ andere gerne spüren, dass er sie für ihm unterlegen hielt. Selbstgefällig sah er, dass Maria den Zeitungsartikel in Augenschein nahm, erwähnte ihn aber mit keiner Silbe.
»Frau Saletti, können Sie mir etwas mehr über den Drogenfund sagen? In Ihrem Bericht, den ich hier vor mir habe, wird nicht so ganz deutlich, wem die Schuhe nun gehören. Zeitgleich habe ich eine Meldung auf den Tisch bekommen, in der Frank Hattinger seine Schuhe als gestohlen gemeldet hat. Herr Hattinger ist aber überhaupt nicht für Drogen bekannt, oder wissen Sie da etwas anderes?« Er hatte seine Lesebrille auf der Nase und blickte sie über deren Rand an. Maria trat zögerlich zwei Schritte näher an Richard Meurers Schreibtisch.
»Nein, Herr Meurer, der Gefangene Hattinger ist in keiner Weise auffällig, was Drogen angeht. Jedoch hat er näheren Kontakt zu Carlos Ribeiro, und dieser fällt auf, weil er bei der Urinkontrolle ständig positiv auf Heroin getestet wird.« Maria blieb stehen, irgendetwas hinderte sie daran, näher an den Schreibtisch zu treten.
»Wie kommt der an die Drogen, was meinen Sie?« Meurer hatte sich aufgerichtet und blickte Maria nun freundlich an.
»Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht über den Besuch, aber ich habe schon in der Besucherliste nachgesehen. Carlos Ribeiro bekommt nur von seiner Mutter Besuch, und das ist ein altes Mütterchen, das wohl kaum das Heroin in ihren Körperöffnungen in den Knast schmuggelt.«
Meurer machte eine bedeutungsvolle Pause, wobei er sie genau ansah.
»Suchen Sie weiter auf dieser Station nach Drogen und beobachten Sie, mit wem dieser Ribeiro noch Kontakt hat. Danke!« Meurer lächelte sie an, wobei er dabei nur seinen Mund verzog, bis zu seinen Augen reichte das Lächeln nicht. Augenblicklich wanderte sein Blick wieder nach unten auf eine Akte, die vor ihm lag.
Das war eindeutig die Aufforderung zu gehen. Maria nickte und verließ das Büro.
Als sie im Flur stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Wie schaffte es Meurer nur immer, sie so zu verunsichern. Er hatte eine imposante Größe von mindestens einem Meter 90, aber da war etwas anderes, was ihn so einschüchternd wirken ließ. Normalerweise konnte man sie nicht so schnell ins Bockshorn jagen, nur in seinem Beisein fühlte sie sich wie ein Nichts. Gut, dass sie für den bösen Blick gerüstet war. Ihre Großmutter hatte ihr vor Jahren einen kleinen Anhänger, ein Hörnchen aus Gold, geschenkt, diesen trug Maria immer bei sich. In Neapel nannte man es Corno, es bewahrte den Träger vor dem bösen Blick.
Auf der Station II5 angekommen, sah sie gerade Savic mit Ribeiro sprechen. Es war offensichtlich kein Gespräch unter guten Freunden. Als beide Maria entdeckten, verstummten sie sofort, und Ribeiro trollte sich.
»Na, Frau Saletti, Sie sehen aus, als hätte Sie jemand geärgert.« Savic schien Maria genauestens zu beobachten.
4
Einige Stunden später, die Gefangenen hatten Freizeit und durften sich für zwei Stunden frei auf ihrer Station bewegen, schlich Ribeiro über den Flur und holte sich einen Tee an dem aufgestellten Teespender. Er sah miserabel aus. Blass und seit Tagen nicht geduscht, schleppte er sich wieder in seine Zelle. Er kratzte sich ständig, sodass auch der Blödeste es verstand: Er war auf Entzug. Die Russen hatten sich einen kleinen Tisch aufgestellt und spielten Karten. Einige von ihnen saßen in der Hocke um die Kartenspieler herum. Diese Art des Sitzens konnte Maria bisher nur bei ihnen beobachten. Manche hielten auch eine lange Kette mit Holzperlen in der Hand, die sie ununterbrochen zwischen ihren Fingern hindurchgleiten ließen. Ausnahmslos waren alle irgendwie auf Drogen, auch wenn in deren Wahrnehmungsbogen kein Delikt wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz aufgeführt war. Fast jeder der Männer war abhängig. Viele waren blass und mager, ja mangelernährt. Zudem hatten sie sich die Köpfe fast kahlgeschoren. Sie sahen aus, als kämen sie geradewegs aus dem Gulag. Männer mit nicht einmal 30 Jahren sahen aus wie ihre eigenen Großväter, hässliche Tätowierungen waren auf ihren weißen Körpern zu sehen. Die Tattoos wurden verbotenerweise hier im Knast angefertigt und sahen wenig professionell aus, hatten aber für Knastinsider wichtige Bedeutung. Man konnte anhand der Tätowierungen den kriminellen Werdegang eines Deutschrussen ablesen. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft,