Zellen zu kontrollieren, diese Arbeit widerstrebte ihr zutiefst. Dabei musste sie Dinge in die Hand nehmen, die dermaßen schmutzig und versifft waren, dass sie manchmal direkt Brechreiz verspürte. Ab und zu hatte sie noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie eine Zelle betrat. Sie spürte den Schweiß auf ihren Handflächen und merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Durch das Mantra einatmen und ausatmen, einatmen und ausatmen beruhigte sie sich selbst ein wenig. Auf keinen Fall durfte ein Kollege oder gar ein Gefangener bemerken, wie es um sie stand.
Die wenigen Quadratmeter waren für einige Gefangene der Lebensraum für viele Jahre. Sie wusste, wie wichtig Zellenkontrollen für alle waren. Nur so konnte man sicherstellen, dass keine gefährlichen Gegenstände innerhalb der Anstalt kursierten. Der eine oder andere war sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, Gegenständige des täglichen Gebrauchs in Waffen umzufunktionieren. Sie hatte schon eine Gabel gefunden, die rundgebogen und die Zacken so nach vorne gebogen waren, dass sie wie ein Schlagring eingesetzt werden konnte. Auch Glasscherben an einem Kleiderbügel, mithilfe von zerrissenen Baumwolltüchern fixiert, konnten zur lebensgefährlichen Waffe werden. Eine mit einer Rasierklinge versehene Zahnbürste wäre ihr selbst fast zum Verhängnis geworden. Es war wichtig, diese Dinge zu finden und aus dem Verkehr zu ziehen. Leider kannten nur die wenigsten Insassen Sauberkeit und Hygiene. Einige fühlten sich offensichtlich in ihrem eigenen Dreck wohl.
Auf ihrer To-do-Liste für den heutigen Tag stand noch die Zelle II510, die Zelle von Karl-Heinz Kurz, einer armen Socke von 60 Jahren, der wegen Fahren ohne Führerschein einsaß. Da sie mit seiner Zelle sicherlich schnell fertig sein würde – er gehörte zu den arbeitenden Insassen – beschloss sie, die Durchsuchung seiner Zelle dazwischenzuschieben. Denn Schneider würde noch einige Minuten brauchen, außerdem hoffte sie, dass in der Zwischenzeit der Gestank aus der Zelle etwas abgezogen war.
Sie schloss die Zelle auf. Karl Heinz Kurz war offenbar ein Mann, der wusste, wie man Ordnung hielt. An der Wand über seinem Bett hing ein Foto von einem kleinen Mädchen, ansonsten wirkte die Zelle geradezu spartanisch. Maria begann links oben in der Zelle, dort befand sich ein kleines Wandregal, auf dem zwei Bücher standen. In den Büchern, die sie durchblätterte, fand sie nichts. Rechts neben dem Regal war das Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Sie nahm den Spiegel ab, aber auch hier war auf der Rückseite des Spiegels nichts festgeklebt. So ging sie im Uhrzeigersinn weiter vor. Sie hatte ihre schnittfesten Handschuhe an und tastete vorsichtig in den Spind hinein. Immer schwang ein wenig die Angst mit, in eine Spritze zu greifen. Viele Drogensüchtige tauschten innerhalb einer JVA die wenigen Spritzen miteinander, sodass man davon ausgehen konnte, dass mehr oder weniger alle, die Heroin drückten, an HIV oder Hepatitis erkrankt waren. Nachdem sie auch im Schrank und unter dem Bett nichts fand, nahm sie sich noch die Sportschuhe vor, die ordentlich unter dem Bett standen. Als sie die Sohle innen befühlte, bemerkte sie, dass diese nicht voll verklebt war. Sie zog sie vorsichtig heraus und fand ein kleines Tütchen mit einem bräunlichen Pulver darin. Wahrscheinlich Heroin. Im zweiten Schuh fand sie nichts. Sie steckte das Tütchen in ihre Hosentasche. Danach untersuchte sie noch alle weiteren Hohlräume der Zelle, und nachdem sie unter großer Kraftanstrengung auch den Bezug der Matratze abgezogen hatte, gab sie einen Funkspruch an Jan Gerber durch. »Burg 46 für die 48«, ein Signalton ertönte. »Burg 46 hört«, gab Gerber als Antwort.
»Bitte mal zur Zelle II 510 kommen.«
»Burg 46 hat verstanden, bin sofort da.« Jan Gerber brauchte für die zwei Stockwerke, die zwischen seinem Büro und der Station II5 lagen, keine Minute. Mit großen Schritten kam er den Stationsflur entlang. Ihr Vorgesetzter war ein interessanter Mann, groß, blond, gutaussehend, mit einem gewinnenden Lächeln. Man nannte ihn in der gesamten Anstalt Miami, von der US-Fernsehserie Miami Vice, in der in jeder Folge dieser Serie Drogen eine Rolle spielten. Und da Jan Gerber wie ein Terrier in der Anstalt Drogen suchte, hatte er schnell den Spitznamen weg. Maria fühlte sich in seiner Gegenwart wohl, er sah sie als gleichwertige Kollegin an. Auch fragte er sie oft nach ihrer Meinung, ein Umstand, der in einer reinen Männerhierarchie nicht selbstverständlich war. Immer wieder musste Maria bei anderen Kollegen um Anerkennung kämpfen.
»Na, Maria, was gibt es?« Jan Gerber kam nun in die Zelle und sah sie fragend an.
»Ich habe hier dieses Tütchen in den Turnschuhen gefunden«, Maria übergab ihren Fund an Gerber, der ihn kurz gegen das Licht hielt.
»Könnte Heroin sein. Ich mache in meinem Büro gleich einen Schnelltest. Wer ist in der Zelle untergebracht?«
»Karl-Heinz Kurz, Fahren ohne Führerschein«, antwortete Maria prompt.
»Ist er schon einmal wegen Drogen aufgefallen?« Gerber sah Maria fragend an.
»Nicht, dass ich wüsste, aber er ist in letzter Zeit sehr nervös, ich habe ihn die letzten Tage beim Einrücken von der Arbeit reden hören. Er spricht ohne Punkt und Komma. Früher war er eher zurückhaltend, scheinbar hat er Stress.« Maria schnappte sich die Schuhe, und gemeinsam verließen sie die Zelle.
»Na, dann schreibe bitte den Bericht. Ich lasse den Kurz von der Arbeit holen. Wir treffen uns in meinem Büro, mal sehen, was er uns zu erzählen hat.« Mit diesen Worten machte Jan Gerber auf dem Absatz kehrt und ging über den Stationsflur in Richtung Büro. Maria verschloss noch die Zellentür und folgte ihm. An der Stationstür angekommen sagte sie: »Das ist ’ne arme Socke, ich denke, den haben sie hier unter Druck gesetzt.« Maria blickte nachdenklich auf den Turnschuh.
»Da kannst du recht haben, aber ich will wissen, wer ihn unter Druck setzt.« Gerber steckte das Herointütchen in die Brusttasche seines Hemdes und lief die Treppe runter zu seinem Büro.
7
Eine Viertelstunde später saß Kurz im Büro von Jan Gerber. Der Sicherheitsdienstleiter betrachtete ihn genauer. Ein kleines Männlein, etwa ein Meter 60 groß und schmächtig, seine dünnen Ärmchen sahen aus, als würden sie bei der geringsten Anstrengung zerbrechen. Auf seinem Vollstreckungsblatt, eine Din A4 Seite, auf dem der Grund der Inhaftierung und eventuelle Vorstrafen vermerkt waren, stand nur die derzeitige Haftstrafe: wiederholtes Fahren ohne Führerschein unter Alkoholeinfluss, was ihm zwei Jahre ohne Bewährung einbrachte. Der Gesichtsausdruck von Kurz sprach Bände, er ahnte, weshalb er im Büro des Sicherheitsdienstleiters saß. Sein Blick war nach unten gerichtet, und er knetete nervös seine Finger.
»Also, Herr Kurz«, begann Gerber, seine Stimme war freundlich. »Frau Saletti hat dieses Tütchen mit Heroin in einem Ihrer Sportschuhe gefunden.« Jan hielt die Drogen direkt vor seine Nase. Kurz blickte auf, seine Augen flatterten hektisch hin und her.
»Das kann nicht sein«, sagte er, »ich nehme keine Drogen.« Die letzten Worte waren kaum zu verstehen. Gerber hob den Sportschuh hoch und fing gerade an, die Sohle herauszunehmen, als Kurz rief: »Das ist nicht mein Schuh!«
Maria und Jan blickten sich an.
»Aha, und wessen Schuh ist das dann, in Ihrer Zelle?«, fragte Maria.
»Weiß ich nicht, aber der sieht auch viel zu groß aus für mich.« Kurz hatte rote Flecken am Hals und schluckte nervös.
»Wenn das nicht Ihr Schuh ist, warum ist er dann in Ihrer Zelle?« Gerber sah Kurz durchdringend an.
»Ich kenne diesen Schuh gar nicht. Ich habe Schuhgröße 40 und der ist mindestens 43, das sieht man doch.« Kurz wurde langsam sicherer, seine Stimme wurde fester.
»Nun gut, Herr Kurz«, fuhr Gerber fort, »wir nehmen das mal so zu Protokoll.«
»Aber wo sind dann Ihre Sportschuhe? Ich habe nur dieses eine Paar in Ihrer Zelle gefunden.« Maria stand direkt vor Kurz. Der kleine Mann musste seinen Kopf in den Nacken legen, um Maria in die Augen zu blicken.
»Ich habe keine Sportschuhe, oder sehe ich aus, als ob ich hier unten in die Muckibude gehe?« Kurz schob den kurzen Ärmel der Arbeitsjacke nach oben, damit man seine Spatzenärmchen in voller