Dieses viel zu laute Schweigen. Petra Bunte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Bunte
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783827184061
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freuen, ein weiteres Opfer gefunden zu haben. Und wer wusste schon, was sie dann mit mir anstellen würden?

      Hin- und hergerissen schaute ich ein weiteres Mal in die Runde, während die junge Frau immer mehr in Bedrängnis geriet. Sie wurde von einem der Halbstarken zum nächsten herumgereicht und dabei eindeutig gegen ihren Willen angefasst.

      Mist! Ich musste irgendetwas tun. Aber was? Und warum ausgerechnet ich? Die anderen waren schließlich auch noch da! Doch sie alle taten weiterhin so, als ginge sie das nichts an, und ich war mir sicher, dass ich ebenso wenig Hilfe zu erwarten hatte, wenn ich es wagen sollte, in die Szene einzugreifen. Also was tun?

      Verstohlen blickte ich zur Anzeigetafel hoch, in der Hoffnung, dass jeden Moment die S-Bahn eintreffen und dem Spuk ein Ende bereiten würde. Doch das Display zeigte weitere vier Minuten Wartezeit an.

      Ich schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich die Situation wie durch Zauberhand plötzlich auflösen möge und alles wieder gut wäre. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Warum hier direkt vor meiner Nase? Und das nur, weil ich mich von Nele bequatschen lassen hatte, mit ihr auszugehen.

      Nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, sah ich auf der anderen Seite jemanden die Stufen zur Haltestelle hochkommen und keuchte erleichtert auf, als ich erkannte, dass es Lukas war. Er blickte den Bahnsteig entlang und grinste mir wie immer fröhlich entgegen. Doch ich war so aufgewühlt wegen der jungen Frau, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch wie erstarrt in ihrer Höhle blieben. Statt ihn ebenfalls anzulächeln, schaute ich nervös rüber zu der Pöbeltruppe und wieder zurück zu Lukas. Ich wollte ihm mit den Augen zu verstehen geben, dass etwas nicht stimmte, und ihm entgegengehen, um zu erklären, was los war. Aber Lukas war meinem Blick bereits gefolgt und zögerte bloß den Bruchteil einer Sekunde, bevor er die Situation erfasst hatte und zielstrebig auf die fünf jungen Leute zusteuerte.

      Diese Wendung der Ereignisse kam so unerwartet, dass ich ein paarmal blinzeln musste, um zu registrieren, dass ich die Szene nicht nur träumte. Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass Lukas ebenfalls mit der Bahn zum Public Viewing fahren würde. Aber wie aus heiterem Himmel war er plötzlich hier, als wäre er sprichwörtlich von eben jenem geschickt worden. Genau so jemand wie er hatte an dieser Stelle gefehlt – einer, der nicht bloß zuguckte, sondern machte. Ich kannte ihn zwar gar nicht gut genug, um das beurteilen zu können, aber es passte zu dem romantisch-verklärten Bild, das ich von ihm hatte: der immer gut gelaunte Strahlemann, der beherzt eingriff, wenn jemand Hilfe brauchte, und wirklich böse werden konnte, wenn man seiner Liebsten etwas tun wollte. In diesem Fall war es zwar nicht seine Liebste, sondern eine fremde junge Frau, aber dieser ausgeprägte Beschützerinstinkt sprach für ihn. Außerdem war er ein großer, sportlicher Mann und würde allein dadurch diesen Möchtegern-Gangstern Respekt einflößen.

      Ich atmete erleichtert auf und beobachtete fasziniert, wie Lukas sich selbstsicher vor der Truppe hinstellte, auf die junge Frau zeigte und etwas sagte. Leider konnte ich nicht verstehen, was, denn die Bluetooth-Box übertönte alles und plärrte irgendwas von „auf die Fresse hauen“. Die Jungs sahen aus, als hätten sie genau das am liebsten mit Lukas gemacht. Der Große reckte das Kinn und machte so ein Ey-Alter-was-willst-du-Gesicht. Auch seine Kumpels hatten sich vor Lukas aufgebaut und die junge Frau völlig vergessen.

      Diese nutzte die Gelegenheit, um ein Stück in meine Richtung zu flüchten, und ich wollte zu ihr gehen und sie fragen, ob alles in Ordnung war. Doch ich konnte den Blick nicht von Lukas abwenden, der weiter mit ernster Miene auf die Typen einredete. Und das schien denen gar nicht zu gefallen.

      Plötzlich fing der Anführer der Gang an, Lukas mit der Hand vor die Brust zu stoßen. Mein Puls schoss in die Höhe. Nein, nein, nein, nein, nein! So nicht! Die würden sich jetzt doch wohl nicht an Lukas vergreifen?! Von wegen Respekt! Er war vielleicht größer und kräftiger, aber die anderen waren zu viert.

      Na und?, wisperte eine Stimme in mir. Mit den restlichen Wartenden zusammen bist du zu sechst, also tu was!

      Ich blickte in die Runde und versuchte abzuschätzen, wer von den Anwesenden am ehesten bereit sein könnte, zu helfen und die anderen mitzuziehen, doch die Bilanz war ernüchternd. Sie erinnerten mich in diesem Moment an die drei berühmten Affen, die sich die Hände über Ohren, Mund und Augen hielten – nichts hören, sagen, sehen. Keiner rührte sich, als wären sie alle Teil eines festgefrorenen Standbilds. Außer dem rothaarigen Mädchen, das wie gelähmt vor Angst mit weit aufgerissenen Augen zusah, wie die vier Halbstarken ihren Retter attackierten.

      Und jetzt?

      Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen, ohne genau zu wissen, was ich eigentlich tun wollte, als im selben Augenblick die Bahn an die Haltestelle heranfuhr und quietschend neben mir zum Stehen kam. Ich spürte, wie mir vor Erleichterung eine ganze Wagenladung Steine von der Seele fiel. Hätte mir vor einer Viertelstunde jemand gesagt, dass ich einmal so glücklich sein würde, dieses Graffiti-verschmierte und meist hoffnungslos überfüllte Vehikel vor mir auftauchen zu sehen, hätte ich ihn für vollkommen verrückt erklärt. Doch jetzt hätte ich den Lokführer vor Dankbarkeit umarmen können.

      In dem naiven Glauben, dass damit schlagartig alles vorbei war, beobachtete ich, wie die junge Frau nach vorne lief und einstieg, so weit wie möglich entfernt von diesen miesen Typen. Auch die Affenbande, wie ich die anderen Wartenden im Stillen getauft hatte, flüchtete in irgendwelche versteckten Winkel.

      Ganz so leicht war es für Lukas leider nicht, denn der Anführer der Pöbeltruppe war noch nicht mit ihm fertig. Ich sah, wie er weiter heftige Verwünschungen und drohende Gesten in seine Richtung schickte, und ich wollte lieber gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn Lukas ihm den Rücken zugedreht hätte. Aber zum Glück hatten seine Kumpels anscheinend etwas vor, was ihnen wichtiger war als eine Prügelei, denn sie zogen ihn mit sich zu einer der hinteren Türen, und die Gefahr war gebannt. Gott sei Dank!

      Meine Beine fühlten sich an wie Pudding, als ich ebenfalls in die Bahn stieg – gleichzeitig mit Lukas, und beide schauten wir im selben Moment rüber zum jeweils anderen Einstieg, sodass sich unsere Blicke trafen. Doch anders als sonst strahlten und funkelten seine Augen nicht, sondern der Ausdruck darin war undefinierbar und verursachte ein merkwürdiges Grummeln in meinem Magen. Lukas musste hundertprozentig mitbekommen haben, dass ich selbst zu feige gewesen war, um einzugreifen, und genau wie die anderen nur zugeguckt hatte, wie die Typen erst die junge Frau und dann ihn bedrängt hatten. Ich hätte zu gerne gewusst, was er jetzt über mich dachte. Und was immer es war, er hatte sicherlich recht damit. Aber … Ach, keine Ahnung. Es war ja zum Glück alles gut gegangen.

      Trotzdem wäre ich Lukas am liebsten hinterhergelaufen, um es ihm zu erklären und ihm zu sagen, wie froh ich war, dass wenigstens er in der Situation eingegriffen hatte. Aber dafür waren wir zu weit voneinander entfernt. Stattdessen versuchte ich ihm mit den Augen ein wortloses: „Danke, dass du dich darum gekümmert hast“, rüberzuschicken, doch da war die Gelegenheit vorbei, und die Bahn hatte ihn verschluckt.

      Ich ließ mich am anderen Ende des Waggons in den letzten freien Sitz fallen und bemerkte erst jetzt, wie sehr meine Hände zitterten. Das war definitiv nicht mein Tag heute. Und die Tatsache, dass die meisten Fahrgäste angetrunkene und johlende Fußballfans auf dem Weg zum Public Viewing waren, machte die Situation nicht besser.

      Aufgewühlt zog ich mein Handy aus der Tasche und schrieb eine Nachricht an Nele.

      Hast du noch was von dem Teufelszeug da? Ich könnte gerade einen Schluck vertragen.

      Was ist passiert?, kam es von ihr zurück. Bist du in die falsche Bahn gestiegen? Das müsstest du als Reiseverkehrskauffrau besser können. Dahinter ein Zwinker-Emoji mit ausgestreckter Zunge.

      Sehr witzig!, tippte ich grummelnd. Aber das wär mir sogar lieber als der Mist, den ich eben am Bahnsteig erlebt habe.

      Was war denn los? Bist du okay?

      Ja. Mir geht’s gut. Aber Lukas hätte es beinah erwischt. Erzähl ich dir gleich.

      Oh nein! Jetzt machst du mich neugierig. Wo bist du denn gerade?

      Schillerstraße. Bin in zehn Minuten da.

      Gut.