Mitten in Europa. André Holenstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Holenstein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039198931
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berufliche Tätigkeit im Ausland auf eine gute Grundausbildung angewiesen. Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten waren erforderlich, um Arbeitsverträge abzuschliessen, mit den Angehörigen zu Hause brieflich in Kontakt zu bleiben und die eigenen Geschäfte in der Fremde zu betreiben. Deshalb verdichtete sich seit dem 16. Jahrhundert das Netz an Dorfschulen. 1630 zählte man in der italienischen Schweiz 52 Schulen. Die meisten lagen im Sottoceneri, woher die meisten Baufachleute stammten. Allerdings waren diese Dorfschulen allein für die Knaben – die künftigen Wanderarbeiter – bestimmt, die vom sechsten oder siebten Lebensjahr an die Schule besuchten, bevor sie in der Regel mit zwölf Jahren ein erstes Mal auszogen. Ihre frühesten Erfahrungen als Wanderarbeiter machten die jungen Männer gewöhnlich, wenn sie von älteren Verwandten oder Nachbarn angeworben oder mitgenommen wurden.

      BAUFACHLEUTE UND KÜNSTLER

      Die hoch qualifizierten Baumeister, Maler, Bildhauer, Steinmetzen und Bauarbeiter aus den Tessiner und Bündner Tälern verdienen bei der Betrachtung der Arbeitsmigration besondere Aufmerksamkeit. Schon im Mittelalter zogen sie aus den lombardischen Voralpen aus und waren auf den grossen Baustellen der sich stark entwickelnden Städte Italiens anzutreffen. Hauptsächlich stammten sie aus dem Sottoceneri – aus der Umgebung von Lugano, dem Malcantone und dem Mendrisiotto, die im frühen 16. Jahrhundert unter die Herrschaft der eidgenössischen Orte gelangten –, häufig auch aus dem Misox, das seit dem späten 15. Jahrhundert bündnerisch war.

      Auch diese ausgeprägte Spezialistenwanderung war meist zeitlich befristet. Die Facharbeiter hielten sich für eine Saison oder wenige Jahre in der Ferne auf. Im Rhythmus von Auszug und Rückkehr entstanden enge Beziehungen zwischen den Bauherren in Italien und den Baufachleuten aus den südalpinen Tälern. Die Verbindungen der Wanderer zu ihren Dörfern blieben bestehen, sodass die heimatliche Verwandtschaft und Nachbarschaft über die Jahrhunderte hinweg das wichtigste Reservoir für die Rekrutierung und Ausbildung junger Facharbeiter bildeten. Auf diese Weise entstanden eigentliche Dynastien von Baufachleuten, die über Generationen hinweg auf bedeutenden Bauplätzen des Auslands anzutreffen waren: die Aprile, die wie die Casella, die Lombardo und die Solari aus Carona stammten, die Artari aus Campione beziehungsweise Arogno, die Baroffio aus Mendrisio, die Bossi aus dem Luganese und Mendrisiotto, die Cantoni aus dem Valle di Muggio, die Carlone aus Rovio, die Castelli, Porri und Tencalla aus Bissone, die Fontana aus Melide, die Lucchesi aus dem Luganese, die Oldelli aus Meride, die Pozzi aus Castel San Pietro und die Silva aus Morbio Inferiore, die Soldati aus dem Malcantone, die Somazzi aus Montagnola und Gentilino, die Taddei und Verda aus Gandria oder die Visconti aus Curio.

      Warum gerade Männer aus diesen Regionen über besondere bautechnische Fertigkeiten verfügten, ist nicht eindeutig zu klären. Eine gewisse Plausibilität hat die Vermutung für sich, dass die Vorkommen verschiedener Steinarten in den südalpinen Tälern frühzeitig die Meisterschaft in der Steinbearbeitung gefördert haben. Der unternehmerische Erfolg dieser Baufachleute gründete darin, dass sie eigentliche Konsortien («maestranze») bildeten, die alle anstehenden Arbeiten auf grossen Baustellen erledigten. Der Baumeister übernahm die Leitung des Bauplatzes und brachte die Spezialisten zusammen, die er für die verschiedenen Bauetappen benötigte: Steinmetzen, Maurer, Maler, Bildhauer, Stuckateure. Die gemeinsame Herkunft und die Zusammenarbeit auf den Baustellen begründeten die korporative Organisation dieser in hohem Grad arbeitsteiligen Unternehmungen. Mit dem Zusammenschluss zu Gesellschaften und Bruderschaften wahrten die Baufacharbeiter ihre Rechte und Interessen gegenüber Bauherren und lokalen Behörden und leisteten sich Hilfe in materieller Not, bei Krankheit oder Tod in der Fremde.

      Frühe Wirkungsstätten dieser Wanderarbeiter waren die Bauhütten der romanischen und gotischen Kathedralen in Modena, Bergamo, Parma, Trient oder Mailand. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts boten Rom und Neapel, wo die Päpste und die spanischen Vizekönige eine intensive städtebauliche Tätigkeit entfalteten, interessante Aufträge in der Übergangsperiode von der Spätrenaissance zum Barock. Seit dem 16. Jahrhundert wandten sich Tessiner und Misoxer Baumeister auch nach Norden und Osten (Deutschland, Schweden, Polen, Böhmen). Ab etwa 1700 weitete sich ihr Aktionsradius bis nach Russland aus, wo sie bis weit ins 19. Jahrhundert einen beträchtlichen Einfluss auf die Repräsentationsarchitektur ausübten.

      Die Baumeister der frühen Zeit sind namentlich nicht bekannt. Im Unterschied zu den Architekten, Bildhauern und Malern der Renaissance, die sich als unverwechselbare Künstler einen Namen machten, verstanden sich jene noch als Handwerker, die im Auftrag ihrer Bauherren tätig waren und namenlos blieben. Doch seit dem 16. Jahrhundert traten auch unter den Tessiner und Misoxer Baumeistern, Malern und Stuckateuren Künstlerpersönlichkeiten hervor, die mit ihren Werken in die europäische Architektur- und Kunstgeschichte eingingen.

      Tessiner und Misoxer Baufachleute im Ausland (A: Architekt/Baumeister; B: Bildhauer; I: Ingenieur; M: Maler; S: Stuckateur) (Auswahl, 15.–19. Jahrhundert)14

      Drei herausragende Tessiner Baumeister sollen hier stellvertretend für zahlreiche andere porträtiert werden. Ihre Bauten bestimmen noch heute das Stadtbild der Ewigen Stadt und Neapels.

      Domenico Fontana (1543–1607) aus Melide kam als junger Stuckateur um 1563 nach Rom, wo er als Baumeister in die Dienste Papst Gregors XIII. (1502–1585, Papst ab 1572) trat. Die Begegnung mit Kardinal Felice Peretti, der als Sixtus V. (1521–1590, Papst ab 1585) Papst Gregor nachfolgte, förderte Fontanas Karriere massgeblich. Sixtus V. entfaltete eine intensive Bautätigkeit in Rom und beauftragte Fontana mit dem Bau der päpstlichen Paläste im Vatikan, Lateran sowie auf dem Quirinal. Er erneuerte die Wasserversorgung Roms und liess Wasser in die höher gelegenen Stadtteile führen, wofür Domenico Fontana – teilweise mit seinem Bruder Giovanni – Aquädukte und repräsentative Brunnen wie den Mosesbrunnen auf der Piazza San Bernardo errichtete.

      Zusammen mit Giacomo della Porta (um 1532–1602) aus dem Melide gegenüberliegenden, heute italienischen Porlezza erbaute Fontana die Kuppel des Petersdoms. In einer bemerkenswerten Ingenieursleistung restaurierte er im Auftrag Sixtus’ V. die umgestürzten, zerbrochenen ägyptischen Obelisken aus dem antiken Rom, überführte sie innerhalb weniger Jahre auf den Petersplatz (1586), die Piazza S. Maria Maggiore (1587), die Piazza S. Giovanni in Laterano (1588) und die Piazza S. Maria del Popolo (1589), wo er sie als nunmehr geweihte Monumente neu aufstellte. Nach dem Tod seines päpstlichen Patrons und Förderers verlor Fontana seine Stellung am päpstlichen Hof und trat 1592 in den Dienst des Vizekönigs von Neapel, für den er die Hafenanlagen Neapels umbaute, Strassenbauprojekte leitete und ab 1600 den neuen königlichen Palast errichtete.

      Carlo Maderno (Maderni) (1555/56–1629), Fontanas Neffe aus Capolago am Luganersee, durchlief eine nicht minder eindrückliche Karriere. Um 1576 holten die Onkel den 20-Jährigen nach Rom, wo sie ihn als Stuckateur und Steinmetz, später als Architekten und Ingenieur beschäftigten. Als Domenico Fontana Rom in Richtung Neapel verliess, übernahm Maderno die Leitung der Bauunternehmen seines Onkels in Rom. Als sein bedeutendstes Werk gilt die Vollendung des Petersdoms, dessen Langhaus und Fassade unter Papst Paul V. (1552–1621, Papst ab 1605) nach seinen Plänen errichtet wurden. Neben Kirchen baute Maderno Paläste für den römischen Kurienadel und prägte mit seinem Stil die neue Barockarchitektur Roms.

      Das Beziehungsmuster zwischen Fontana und Maderno spielte auch in der nächsten Generation im Fall von Francesco Borromini (1599–1667) aus Bissone. Borromini war ein entfernter Verwandter Madernos und arbeitete seit 1619 unter dessen Leitung auf dem Bauplatz des Petersdoms. Auch Borromini errichtete wie seine Verwandten in Rom zahlreiche Sakral- und Profanbauten, wobei er insbesondere in der Gunst von Papst Innozenz X. (1574–1655, Papst ab 1644) stand. Sant’Ivo alla Sapienzia – die Kapelle der Römer Universität – zeigt mit dem Kontrast von konkaven und konvexen Formen und der in einer spiralförmigen Spitze endenden Kuppel exemplarisch die Ausgefallenheit und Originalität von Borrominis Architektur, die ihn zum grossen Gegenspieler von Gian Lorenzo Bernini (1598–1680), dem zweiten «Stararchitekten» Roms im 17. Jahrhundert, machte.

      Baumeister aus der Familie Porri (Pario) aus Bissone fanden schon vor Mitte des 16. Jahrhunderts ihren Weg nach Schlesien, etwas