Die grosse Einwanderung französischer Hugenotten («second refuge») datiert aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts und dem frühen 18. Jahrhundert und wurde durch die Religionspolitik König Ludwigs XIV. von Frankreich ausgelöst, der 1685 das Toleranzedikt von Nantes widerrief. Ungefähr 150 000 Hugenotten sollen die Flucht der erzwungenen Konversion vorgezogen haben. Etwa 60 000 durchquerten dabei die Schweiz, doch liessen sich nur rund 20 000 definitiv hier nieder. Die Solidarität mit den savoyischen und französischen Glaubensbrüdern und -schwestern hielt sich auch in den reformierten Städten und Kantonen in engen Grenzen, sobald erste Hilfe einmal geleistet worden war. Angst vor wirtschaftlicher Konkurrenz, vor politischen Repressalien des mächtigen Nachbarn Frankreich sowie die Ernte- und Hungerkrisen des späten 17. Jahrhunderts veranlassten die Orte zur Wegweisung der meisten Flüchtlinge. Da diese im Gegensatz zu den Glaubensflüchtlingen im 16. Jahrhundert nicht mehr nach Frankreich zurückkehren konnten, zogen viele nach Deutschland weiter, wo sie vor allem in calvinistischen und lutherischen Territorien aufgenommen wurden.
Unter den Familien, die sich nach der Flucht dauerhaft in der Schweiz niederliessen, fanden einige Zugang zur Elite ihrer neuen Heimatstadt, wobei vielfach ihr unternehmerischer Erfolg die Verbindung zu den führenden Geschlechtern anbahnte und die Integration in die soziopolitische und kulturelle Elite erleichterte. Das wirtschaftliche, kulturelle und politische Profil der Städte Genf, Lausanne, Neuenburg, Basel und Zürich in der Neuzeit ist massgeblich von eingewanderten Familien mit Refugiantenhintergrund geprägt worden. Die erfolgreiche Einbindung in die städtische Oberschicht liess die Erinnerung an diese Herkunft mit der Zeit verblassen.
Refugiantenfamilien in der Oberschicht der Städte Genf, Lausanne, Neuchâtel, Basel und Zürich (Auswahl, 16.–18. Jahrhundert)23
Die Integrationspolitik der Stadt Genf spiegelt deutlich die beiden grossen Flüchtlingsbewegungen wider. Mehrere Familien aus dem ersten Refuge (Mitte und zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts) fanden Zugang zur Elite. Darunter waren Franzosen und Luccheser stark vertreten. Zürich nahm protestantische Familien aus südalpinen Tälern auf, besonders jene, die 1555 auf Druck der katholischen Orte Locarno hatten verlassen müssen. Refugianten aus Lothringen und den spanischen Niederlanden bevorzugten die deutschsprachige eidgenössische Grenzstadt Basel. Nicht immer gelangten die Refugianten auf direktem Weg an ihre neue Bleibestätte. Die Wanderung konnte über mehrere Stationen erfolgen, in deren Verlauf die Familien sich in Linien aufspalteten, so im Fall der Fatio, die einen Zweig in Basel und in Genf begründeten, oder bei den Pourtalès, die je eine Linie mit Bürgerrecht in Genf und in Neuenburg besassen. Für die Aufnahme dieser Familien ins städtische Bürgerrecht sowie deren Aufstieg in die soziale, politische und kulturelle Elite ihrer neuen Heimatstadt legte häufig wirtschaftlicher Erfolg die Grundlage. Die Familien aus Lucca und aus dem Locarnese brachten das Seidengewerbe nach Genf beziehungsweise nach Zürich und etablierten dort eine blühende Seidenindustrie. Die Franzosen Fazy, Deluze und Pourtalès führten um 1700 die Indiennefabrikation ins Land ein. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Familien auch nach der erzwungenen Migration gründete in der Tatsache, dass sie ihr bewegliches Vermögen, oft in Form von Wechselbriefen, rechtzeitig ins Ausland transferiert und die Liquidität für ihre Geschäftstätigkeit bewahrt hatten. Ebenso hatten sie ihre Bestellbücher und Kundendaten mitgenommen. Die Geschäftsbeziehungen und die unternehmerischen Qualifikationen waren im Gepäck der Refugianten mitgewandert, was eine entscheidende Voraussetzung dafür bildete, dass die reformierten Gebiete der Schweiz seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein starkes Wachstum in verschiedenen Branchen der gewerblichen Warenproduktion erlebten. Heiratsverbindungen mit Familien aus der alten lokalen Elite eröffneten erfolgreichen Zuwanderern auch den Zugang zu den Räten. Sie sicherten auf diese Weise nicht nur ihren bemerkenswerten sozialen Aufstieg in der neuen Heimat ab, sondern gewannen auch Einfluss auf die Politik, nicht zuletzt auch auf die Wirtschafts- und Handelspolitik ihrer Städte. Materieller Wohlstand ermöglichte vielen männlichen Angehörigen dieser Familien akademische Studien und ein Leben als Gelehrte. Zahlreiche Theologen und Juristen wirkten als Professoren an Universitäten, Akademien oder Hohen Schulen. Seit dem späten 17. Jahrhundert brachten diese Familien auch Mediziner und Naturforscher hervor, die sich als Privatgelehrte und Pioniere in der Botanik, Geologie oder Alpenforschung einen Namen in der europäischen Gelehrtenrepublik machten.
Ein Massenphänomen wurde die Einwanderung in die Schweiz allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die expandierende Schweizer Wirtschaft ihren Bedarf an Arbeitskräften immer weniger im Inland decken konnte. Die Zuwanderung übertraf zahlenmässig erstmals zwischen 1888 und 1900 die Auswanderung. Vor dem Ersten Weltkrieg machten die mehrheitlich unqualifizierten italienischen Bauarbeiter mehr als ein Drittel der Ausländer in der Schweiz aus. Ihre starke Präsenz, die Angst der Schweizer Arbeiter vor ausländischer Konkurrenz und sinkenden Löhnen sowie fremdenfeindliche Gefühle provozierten in Bern 1893 und in Zürich 1896 Zusammenstösse zwischen italienischen und Schweizer Arbeitern sowie den Ordnungskräften.
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