Die Städte und Territorien Italiens waren aus politischen und kulturellen Gründen das erste Auswanderungsziel. Wirtschaftlich, kulturell und politisch-herrschaftlich gehörten die südalpinen Täler des Tessins zum Einflussbereich lombardischer Herrschaften. Erst im 15. Jahrhundert griffen die Innerschweizer Orte über den Gotthard nach Süden aus. Ihre Expansion wurde mit der Eroberung des Luganese, Locarnese und Mendrisiotto (1512/17) und dem Verzicht des Herzogtums Mailand auf diese Gebiete abgeschlossen. Schon im 16. Jahrhundert richteten Wanderarbeiter ihre Ziele auch nach Norden und Osten aus und waren seitdem je nach Gewerbe in Frankreich und den Niederlanden, in Deutschland, Österreich-Ungarn, Böhmen, Mähren und Polen anzutreffen.
Beobachtungen zur Wanderarbeit der Gepäckträger, Transportarbeiter sowie der Kaminfeger sollen diese allgemeinen Feststellungen veranschaulichen.
Gepäckträger und Transportarbeiter aus dem Locarnese waren in den grossen Häfen von Genua, Livorno und Pisa tätig, wo sie sich erfolgreich gegen Konkurrenten aus dem Bergamaskerland und Veltlin behaupteten. Im Hafen von Livorno knöpften die 50 Gepäckträger aus dem Locarnese (Rasa, Ronco, Losone) 1631 ihren Konkurrenten das Monopol gegen eine Jahresgebühr von 1750 Dukaten ab und willigten ein, ohne Ehefrauen im Zollgebäude des Hafens zu leben und nicht ohne obrigkeitliche Bewilligung in die Heimat zurückzukehren. Sie behaupteten das erbliche und lukrative Monopol auf die Verladearbeiten bis 1847.
Die Misoxer Kaminfeger stiegen in Wien im 17. und 18. Jahrhundert auf, als die Bevölkerung dieser Metropole von etwa 130 000 Einwohner (1720) auf 260 000 Einwohner (1818) anwuchs. In Grossstädten wie Wien ordneten die Behörden aus feuerpolizeilichen Gründen frühzeitig das regelmässige Fegen der Kamine an. Das Wiener Kaminfegergewerbe florierte nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Kaminfeger zünftisch-korporativ organisierten und feste Bezirke untereinander aufteilten. Die Zunftmeister konnten bis ins 19. Jahrhundert die Zahl der Meisterstellen auf 18 beschränken und damit die Marktverhältnisse kartellisieren. In der habsburgischen Residenz behaupteten mehrere Kaminfegerfamilien aus dem Misox eine starke Position. 30 Männer aus der Familie Martinola aus Soazza waren dort zwischen dem späten 17. und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tätig. 28 Kaminfeger aus der Familie Toscano aus Mesocco schafften es bis zur Meisterschaft. Zwischen 1775 und 1860 stellten die zugewanderten Meister aus Soazza und Roveredo fast ausschliesslich die Vorstände der Kaminfegerzunft in Wien. Das angesehene Amt des kaiserlichen Hofrauchfangkehrers bekleideten zwischen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und dem Jahr 1826 ausschliesslich Meister aus Soazza. Der Hofkaminfeger hatte alle Gebäude der kaiserlichen Verwaltung unter sich. Das Amt brachte nicht nur einen hohen Verdienst, sondern auch grosses Prestige ein.
Die in Wien lebenden Kaminfeger aus dem Misox standen in regem Austausch mit ihren Familien zu Hause. Das Beziehungs- und Kommunikationssystem funktionierte über die weite Entfernung in beide Richtungen. Es etablierte sich eine langfristig stabile Migrationstradition innerhalb eines Dorfes oder gar innerhalb derselben Familie, wie der Fall der Familie Toscano zeigt, die zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts 31 junge Männer nach Wien in die Lehre schickte. Für die anhaltenden Verbindungen zwischen Wien und dem Misox spricht auch die Tatsache, dass viele Wiener Gewerbler in der Heimat Grund und Boden in ihrem Besitz behielten und sich damit die Option der Rückwanderung offenhielten. Von der Verbundenheit mit der Heimat zeugten auch Schenkungen und Erbschaften der Wiener Familien für ihre Verwandten sowie fromme Legate für kirchliche Einrichtungen im Misox. Die Wanderungen der Misoxer Kaminfeger waren offenbar eine Mischung von lebenszyklischer Wanderung und permanenter Auswanderung. Für die einen beschränkte sich der Aufenthalt in Wien auf eine bestimmte Lebensphase, andere liessen sich dort dauerhaft nieder.
Ganz anders getaktet waren die Bewegungen der saisonal migrierenden Gepäckträger, Hutverkäufer, Marronibrater oder Bauarbeiter. Diese Saisonarbeiter hielten sich jeweils etwa ein halbes Jahr in der Fremde auf, kehrten dann in ihre Dörfer zurück, um im Jahr darauf wieder loszuziehen. Für mehrere Monate entleerten sich die betroffenen Tessiner Dörfer von ihren Männern, und die Frauen, Kinder und Alten blieben unter sich. Vermutlich bestanden diese Wanderzyklen schon im 16. Jahrhundert. Je nach Branche und regionaler Herkunft überwogen die Sommerwanderer, die jeweils zwischen März und Mai auszogen und im November oder Dezember zurückkehrten, oder die Winterwanderer, die zwischen Herbst und Frühling landesabwesend waren. So waren die Tessiner Bauarbeiter allgemein im Sommerhalbjahr von zu Hause weg, während die Männer aus den Alpentälern des Sopraceneri ihre Dörfer im Winter verliessen.
Die saisonale Wanderung war eine verbreitete gesellschaftliche Erscheinung. Einträge der Priester in den Kirchenbüchern geben für bestimmte Stichjahre einen Eindruck vom Ausmass der Auswanderung: In Mezzovico waren 1677 65 Prozent der erwerbsfähigen Männer (15–64 Jahre) bei der Erhebung nicht im Land. Im Bleniotal, wo im Jahr 1743 insgesamt 1741 Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren lebten, waren zum Zeitpunkt der Erhebung 815 Männer (56%) landesabwesend. In einzelnen Blenieser Gemeinden lag dieser Anteil wesentlich höher. So waren 1743 in Leontica 92 von 99 Männern, in Olivone 217 von 260, in Buttino 30 von 34, in Campo 42 von 53 und in Torre 24 von 30 Männern nicht zu Hause.13 Auch wenn diese Zahlen für das Bleniotal besonders hoch sind und in anderen Gemeinden nur zwischen 11 und gut 21 Prozent der Männer im erwerbsfähigen Alter als Saisonarbeiter wanderten, bleibt allgemein festzuhalten, dass die saisonale Wanderung das soziale, ökonomische und kulturelle Leben dieser Tessiner Dörfer wesentlich prägte.
Welche ökonomische Logik lag den saisonalen Wanderungen zugrunde, und welche Folgen hatte diese für den Lebensalltag der Wandernden und der Zuhausebleibenden? Die Wanderung bildete das eine tragende Element einer Haus- und Familienwirtschaft, die ihre Subsistenz aus zwei Quellen bestritt. Die Männer brachten aus der Fremde Geldeinkünfte nach Hause, die sie in der Heimat nicht erwerben konnten, weil das Tessin nur wenig urbanisiert und kommerzialisiert war. Abgesehen vom fruchtbaren, flachen Mendrisiotto war das Tessin mit seinen vielen Tälern, Hügel- und Berglandschaften stark auf die Subsistenzlandwirtschaft ausgerichtet. Mit dem Geldeinkommen der Wanderarbeiter kauften sich die Haushalte Nahrungsmittel und Güter, die im Tessin nicht oder nicht in hinreichender Menge produziert wurden, vornehmlich Wein, Getreide und Salz, und sie bezahlten damit ihre Abgaben und Gebühren. Flüssiges Geld alimentierte zudem das lokale Kreditwesen und den Immobilienmarkt. Komplementär zu diesem geldwirtschaftlich-kommerziellen Pol der lokalen Ökonomie agierten die Frauen und übrigen Angehörigen des Haushalts, die zu Hause blieben. Sie bewirtschafteten die Felder, besorgten das Vieh und betrieben Sammelwirtschaft in den Wäldern. Sie produzierten die meiste Nahrung, die der Haushalt im Jahreslauf konsumierte. Männer und Frauen trugen je auf ihre Weise zur Subsistenz von Familie und Haushalt bei. Das saisonale Ausströmen der Männer erfolgte keineswegs aus der Not heraus, sondern war vielmehr in eine komplementäre Familienökonomie mit geschlechterspezifischer Rollen- und Arbeitsteilung eingebunden. Diese Verbindung von saisonalem Wandergewerbe und Subsistenzlandwirtschaft löste sich erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als sich mit der Massenauswanderung nach Übersee neue Möglichkeiten eröffneten.
Die duale Familienwirtschaft hat die Tessiner Täler in vielfältiger Hinsicht geprägt. Sie bestimmte die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen und den Zyklus der sozialen Reproduktion der Haushalte. Die Frauen trugen mit einer hohen Arbeitsbelastung die familiale Haus- und Landwirtschaft, was ihnen eine hohe Eigenverantwortung und Selbständigkeit verschaffte. Die Wanderungen der Männer strukturierten den Rhythmus der Heiraten und Geburten. Wo Winterwanderung vorherrschte wie im Bleniotal, wurde im Juni und Juli geheiratet, obwohl in diesen Monaten die anstrengenden Heuarbeiten anfielen. Die Kinder kamen im März und April des darauffolgenden Jahres zur Welt. Die letzten Monate der Schwangerschaft fielen damit günstigerweise in die Winterzeit, wo die Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft vergleichsweise gering war. Die Sommerwanderer heirateten dagegen im Januar und Februar, die Geburten der Kinder häuften sich zwischen August und November. Auch das gesellschaftliche und politische Leben war auf die Wanderungen abgestimmt. Gemeindeversammlungen, Wahlen oder die Arbeiten im Gemeinwerk für die Ausbesserung von Kanälen, Wegen und Brücken fanden statt, wenn die Männer zu Hause