WER GEHT, WER KOMMT? ZUR SCHWEIZER SIEDLUNGSWANDERUNG
Siedlungswanderungen waren aufgrund ihres kollektiven Charakters und der Perspektive der Migrierenden auf die dauerhafte Niederlassung am Zielort in der Regel organisierte Unternehmungen. Sie wurden von interessierten Kreisen in den Zielländern vorangetrieben und sollten grössere Gruppen zur dauerhaften Verlegung ihres Lebensmittelpunkts bewegen.
Grössere Gruppen von Schweizer Siedlungswanderern wanderten erstmals gegen Ende des Dreissigjährigen Kriegs in den 1640er-/1650er-Jahren aus. Im Dreissigjährigen Krieg hatten Württemberg oder die Pfalz Bevölkerungsverluste von bis zu 70 Prozent hinnehmen müssen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden diese Gebiete erneut durch Kriege zwischen Frankreich und dem Reich in Mitleidenschaft gezogen. Die Landesherren dieser Territorien in der näheren und weiteren Nachbarschaft warben deshalb in der vom Krieg verschonten Schweiz um Bauern, die die entvölkerten Landstriche wieder besiedeln sollten. Zwischen 1660 und 1740 zogen 15 000 bis 20 000 Menschen in Richtung Freigrafschaft Burgund, Elsass, Pfalz, Baden, Württemberg, Bayern und Brandenburg weg.
Europäische Destinationen schweizerischer Siedlungswanderung (17.–18. Jahrhundert)19
Die geschätzten Werte vermitteln wenig von der sozialen Dynamik und den organisatorischen Herausforderungen von Siedlungswanderungen in der frühen Neuzeit. Regionalstudien vermögen besser die Ausmasse und die lokalen Muster der permanenten Auswanderung aufzuzeigen.
Aus 22 Dörfern des bernischen Aargaus wanderten zwischen 1648 und 1700 jeweils 5 bis 115 Personen in die Pfalz aus. Zwischen 10 und 40 Prozent der Bewohner dieser Dörfer verliessen in diesem Zeitraum definitiv das Land.20 Dabei konnten sich regionale Auswanderungstraditionen einspielen, die sich über mehrere Generationen erstreckten, wie das Beispiel der Kirchgemeinde Ottenbach im Zürcher Knonauer Amt zeigt: Zwischen 1649 und 1749 verliessen insgesamt 667 Personen die Gemeinde, mehr als 75 Prozent in Richtung Elsass, Zweibrücken und Pfalz. Die Auswanderung erfolgte dabei keineswegs kontinuierlich, sondern in ausgeprägten Wellenbewegungen.21
Die Auswanderer aus dem Knonauer Amt waren überwiegend sogenannte Tauner, das heisst Angehörige der ländlichen Unterschicht, deren Haushalte sich von den bescheidenen Gütlein und der Betätigung im Landhandwerk kaum ernähren konnten und die folglich in Ernte- und Teuerungskrisen als Erste unter Hunger und Not zu leiden hatten. Auch Knechte und Mägde zogen weg, die im Ausland wegen des Arbeitskräftemangels gute Beschäftigungsmöglichkeiten fanden. Eine eigene Gruppe stellten die Täufer, Angehörige einer in der Reformation entstandenen Freikirche, dar, die sich trotz der Verfolgung durch die Obrigkeit meist in peripheren ländlichen Räumen hatten halten können. Die Auswanderung eröffnete dieser Glaubensgruppe die Aussicht, sich ein für allemal der Verfolgung durch Kirche und Obrigkeit zu entziehen und in der Fremde eine sichere Existenz mit herrschaftlich garantierter Glaubensfreiheit aufzubauen. Im Elsass und in anderen Gebieten gehörten die fleissigen Täufer aus der Schweiz bald einmal zu den Pionieren des Landbaus, die auf ihren Höfen erfolgreich Methoden zur Steigerung der agrarischen Erträge ausprobierten.
Die auswandernden Aargauer und Knonauer versuchten, die mit dem Wechsel ihres Wohnorts verbundenen Risiken möglichst gering zu halten. Sie setzten auf Faktoren der Konstanz und Stabilität, die die Kosten der Ansiedlung in der Fremde berechenbarer machen sollten. Sie bevorzugten Zielgebiete, deren Konfession und Sprache ihnen vertraut waren. Gerne zogen sie auch in Gegenden, wo sich früher ausgewanderte Verwandte oder Nachbarn niedergelassen hatten. Vor dem Aufbruch verkauften sie nicht ihren gesamten Grundbesitz, um so ihr Bürgerrecht in der Gemeinde zu behalten und sich die Option auf die Rückkehr offenzuhalten. Die endgültige Ablösung von der alten Heimat erfolgte mitunter erst Jahrzehnte nach dem Wegzug.
Für Siedlungswanderer nach Übersee entfiel die Option der Rückwanderung allerdings in den allermeisten Fällen, sei dies aus Kostengründen oder aus politisch-rechtlichen Überlegungen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das frühe Kolonisationsprojekt des Berner Patriziers Christoph von Graffenried (1661–1743), der 1710 eine Gruppe von 106 Auswanderern anführte, mit denen er sich im heutigen North Carolina niederlassen und dort die Stadt New Berne gründen wollte.22 Die bernische Obrigkeit unterstützte das Vorhaben, bestand doch mehr als die Hälfte der Gruppe aus verhafteten Täufern, die der Berner Rat auf diese Weise endgültig loswerden wollte. Die englische Krone förderte das Unternehmen aus kolonialpolitischen Gründen. Von den im März 1710 mit der Kolonistengruppe abgereisten Täufern traf allerdings kein einziger in Nordamerika ein, weil sie sich auf dem Weg nach Amsterdam von Glaubensgenossen in Deutschland und in den Niederlanden befreien liessen. Auch das Kolonisationsprojekt in Übersee endete schon 1713 abrupt, nachdem von Graffenried bei der Suche nach Bodenschätzen von Indianern gefangen genommen und erst gegen die Zusicherung, die Kolonie nicht weiter auszubauen und die Indianer nicht in ihren Fisch- und Jagdrechten einzuschränken, wieder freigelassen worden war. Während Graffenrieds Gefangenschaft war die Siedlung New Berne von den Indianern weitgehend zerstört worden.
Trotz solchen Rückschlägen setzte seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine permanente Schweizer Auswanderung in die englischen Kolonien Nordamerikas ein. In den Vereinigten Staaten von Amerika lebten schon 1790 etwa 25 000 Auswanderer aus der Schweiz, mehrheitlich in Städten. Ihren Höhepunkt erreichte die Massenauswanderung im 19. Jahrhundert. In jedem Jahrzehnt zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1920er-Jahren verliessen die Menschen zu Zehntausenden definitiv die Schweiz. Allein in den 1880er-Jahren waren es mehr als 90 000, die von der Aussicht auf ein besseres Leben in Übersee angelockt wurden. Die Auswanderung wurde massgeblich durch professionelle Auswanderungsagenturen organisiert und durch die rasante Verbesserung der Transportmittel (Eisenbahn, Hochseedampfer) erleichtert. Neben Nord- und Südamerika war Russland seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Destination für Siedlungswanderer. Bis zur Russischen Revolution 1917 zogen mehr als 20 000 Schweizerinnen und Schweizer vorübergehend oder auf Dauer nach Russland, darunter – neben Hofbeamten und Offizieren, Architekten, Gelehrten, Ärzten, Zuckerbäckern, Erziehern und Gouvernanten – im 19. Jahrhundert auch zahlreiche Käser.
EINWANDERER VERÄNDERN DIE SCHWEIZ
In der frühen Neuzeit handhabten Städte und Dörfer die dauerhafte Niederlassung und bürgerrechtliche Integration von Fremden aus Angst vor wirtschaftlicher Konkurrenz und vor den steigenden Kosten für die Armenfürsorge grundsätzlich sehr restriktiv. Die Zuwanderung grösserer Gruppen in die Schweiz blieb bis zur starken Immigration von Arbeitskräften im Zeitalter der industriellen und demografischen Revolution im 19. Jahrhundert die Ausnahme. Eine solche Ausnahme stellten die reformierten Glaubensflüchtlinge dar, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einwanderten und ein wichtiges Kapitel der schweizerischen Migrationsgeschichte bilden. Die reformierten Territorien der alten Schweiz waren naheliegende Zufluchtsorte für Menschen, die wegen ihres protestantischen Glaubens zur Flucht beziehungsweise Auswanderung gezwungen wurden. Als Kernlande der (zwinglischen und calvinischen) Reformation boten die reformierten Orte diesen Menschen Schutz vor Verfolgung. In Genf, in der Waadt, in Neuenburg sowie in den reformierten Städten der deutschen Schweiz ersuchten Glaubensflüchtlinge aus Italien (Veltlin, Toscana), Savoyen, Frankreich und England schon ab den 1530er-Jahren um Hilfe und um zeitweilige oder dauerhafte Aufnahme.
Neugläubige Glaubensflüchtlinge gelangten in zwei Phasen in die reformierte