Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199242
Скачать книгу
bereits 1890 vor der Tendenz, dem «Krieg» einen «Selbstzweck» und ein «Eigenrecht» zuzuschreiben, gewarnt und feinfühlig den Vormarsch des «Kommandorechtes», der «militärisch nachgeahmten Disziplin» und «militärische(r) Auffassungen und Einrichtungen» im zivilen Leben konstatiert: «Ja selbst in den gewöhnlichen Sprachformen haben sich Ausdrücke eingebürgert, die aus dem Kasernenhofe stammen; ‹stramm› ist ein Wort geworden, das auf alle möglichen Verhältnisse angewendet wird, und ‹Schneidigkeit› ist längst nicht mehr das Privilegium des Kavallerieoffiziers. Ist dies im eigenen Lande schon so, so verkehren vollends die Völker eigentlich miteinander in den Formen des Kriegszustandes.»50 Die zunehmende Deutung des Kriegs als Bewährungsinstanz des einzelnen Milizsoldaten, der nationalen Streitkraft und des Staatsvolks erlaubte militärische Ausbildung und Erziehung losgelöst vom Status des Staatsbürgers zu denken und sich an einer imaginierten «Kriegstauglichkeit» zu orientieren, der, zunehmend abgehoben von der Entwicklung der Kampfführung und dem schweizerischen sozialen und politischen Kontext, eine gesellschafts- und geschichtsphilosophische Dimension beigemessen wurde. Mit dem Aufstieg der Richtung des «Neuen Geistes» um Ulrich Wille seit den 1890er-Jahren sollte dieses Denken in der Schweizer Armee kurz vor dem Ersten Weltkrieg dominant, wenn auch nicht hegemonial werden.

Im Zeitalter der Weltkriege image

      Ulrich Wille als Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg (Bild: Bibliothek MILAK).

      Ulrich Wille gehört zweifellos zu den bedeutendsten Militärdenkern der Schweiz. An was erkennt man einen bedeutenden und nachhaltigen Militärdenker? Ein untrügliches Zeichen ist die Herausgabe seiner Schriften.1 Dies trifft auf Ulrich Wille zu. 1941, auf dem Höhepunkt des militärischen Erfolgs der deutschen Wehrmacht, gibt ein ergebener Zirkel von Wille-Schülern die Gesammelten Schriften General Ulrich Willes heraus. Sie sollen das militärische Denken des 1925 verstorbenen Generals wachhalten und insbesondere eine intellektuelle Phalanx gegen das Gedankengut einer jungen Offiziersgeneration bilden, die eben dabei ist, sich von Wille abzuwenden, deren Nukleus sich personell im Offiziersbund von 1940 erstmalig gefunden hat und sich nach dem Krieg als Reformergruppe mit den Wille-Schülern der vierten Generation streiten wird.

      Die 600-seitigen Gesammelten Schriften erlauben es, das Denken Ulrich Willes vollständig zu erfassen und zu analysieren. Niklaus Meienberg hat davor zurückgeschreckt.2 Im Rahmen meiner Habilitationsschrift «Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im militärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle» musste ich mich dagegen durch die Gesammelten Schriften Willes durchbeissen.3

      Um Ulrich Willes Ort des Denkens und seine Eigenart in der Entwicklung der Pensée militaire suisse zu fassen und zu umreissen, werden nachfolgende Aspekte behandelt: Als Erstes werde ich ganz kurz den Ort des Denkens und Wirkens Ulrich Willes kennzeichnen respektive benennen, aus welchen Expertenpositionen er sprechen und wirken konnte. Im Zentrum wird dann eine Annäherung an den Kern seines Denkens stehen: eine Auslegung der Grundzüge seiner Militärpädagogik. Abschliessend werde ich den kriegs-, staats- und geschichtsphilosophischen Hintergrund des Denkens Ulrich Willes skizzieren.

      Der Ort des Denkens und Wirkens Ulrich Willes

      Ulrich Wille verstand sich als Instruktionsoffizier von Anfang an als Experte. Damit verfügte er über ein Selbstverständnis, welches in der schweizerischen Gesellschaft kaum verankert war, war doch die soziale Anerkennung des Instruktionskorps gering und der Typ des den hiesigen Militärdiskurs beeinflussenden Instruktionsoffiziers bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts selten.4 Wohl von seinem Elternhaus beeinflusst – Mutter und Vater waren schriftstellerisch und publizistisch tätig –, kaufte er eine Fachzeitschrift und schuf sich damit die Position einer Fachautorität.5 Wille erwarb 1880 die Zeitschrift für Artillerie (ZAG) und markierte seinen Anspruch auf einen Expertenstatus unverzüglich mit einer Artikelserie unter dem Titel «Verkehrte Auffassungen». Mit der Ernennung zum Oberinstruktor der Kavallerie gab Wille die Zeitschrift für Artillerie auf, ohne jedoch ganz auf eine publizistische Tätigkeit zu verzichten. Nach seiner Ernennung zum Waffenchef der Kavallerie publizierte er bewusst eine grundlegende Schrift zur Ausbildung der Armee und versuchte, seine neu gewonnene hierarchische Stellung militärintern wie -extern mit Vehemenz einzubringen.6 Seine durch Provokation bewirkte Entlassung im Jahre 1896 führte vorerst zu einer Marginalisierung seiner publizistischen Tätigkeit. Wille publizierte von 1896 bis 1899 in der Zeitung Die Limmat, bis er für kurze Zeit wieder bei der Zeitschrift für Artillerie und Genie ein Podium bekam. Spätestens seit 1892 war aber Wille selbst ein «Ort des Aussagens» geworden. Als informeller Kopf der «Neuen Richtung», welche mit der «Nationalen Richtung» im Streit lag, stieg er zur Autoritätsperson einer von ihm abhängigen Gruppierung im Offizierskorps auf.7 Mit seiner Rückkehr in die sozial hoch angesehenen Positionen eines Milizdivisionärs, dann Korpskommandanten und Professors für Militärwissenschaften an der ETH gelang es Wille, auch die Chefredaktion der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung (ASMZ) zu übernehmen. Die Chefredaktion gab er 1914 bei der Wahl zum Oberbefehlshaber der mobilisierten Milizarmee ab. Durch die Kumulation von militärischen, wissenschaftlichen und publizistischen Positionen erreichte Wille zwischen 1901 und 1914 einen herausragenden Status, welcher ihn zur führenden Autorität im Felde des Militärdiskurses machte. Durch seine Persönlichkeit war Wille bereits in den 1890er-Jahren zu einer militärischen Autorität geworden, erst seine hochrangigen Stellungen verliehen ihm aber die Position eines höchst legitimen Sprechers im militärischen Feld.8

      Soldatenerziehung – Der Kern des Denkens Ulrich Willes

      Während über 40 Jahren, von 1877 bis 1924, hat Ulrich Wille der schweizerischen Öffentlichkeit in unzähligen Varianten dieselbe Predigt gehalten: Die Wehrmänner der Schweizer Armee seien nicht erzogen, sie hätten zu wenig Disziplin und zu wenig Respekt vor ihren Offizieren. Die Offiziere hätten zu wenig Autorität und träten nicht entschlossen genug auf, um bei den Soldaten absoluten Gehorsam durchzusetzen. Der Führungseinfluss der Offiziere sei vom Wohlwollen der Truppen abhängig. Die Ausbildung der Soldaten wiederum erfolge nach dem Schema der napoleonischen «Kleinen Taktik»: Von der Einzelausbildung bis zur Brigade werde zwar reichlich, aber mechanisch und mit republikanischer Souplesse exerziert. Dieser Befund Willes beruhte dabei nicht primär auf einer Analyse der Entwicklung der Truppenführung und der Waffentechnik, sondern auf den im Truppendienst wahrgenommenen Symptomen larger Disziplin und reserviert republikanischer Subordination.

      Ursache für die Defizite in der Truppenführung war der seit den frühen 1860er-Jahren einsetzende Zersetzungsprozess der exerziermässigen Kampfführung. Die geschlossenen Formationen mussten zunehmend «zerstreut» werden, und das mechanische «Trüllen» (Drillen) der Soldaten in der Einzelausbildung und in der Formation, bis es «dem Scheine nach» klappte, genügte nicht mehr. «Die Disziplin aber, wie wir sie heut zu Tage brauchen, welche die deutschen Truppen im Kriege 1870/71 zum Siege führte, ist eine Angewöhnung, eine moralische Zucht, deren Fortbestehen garantiert wird durch das richtige Benehmen des Vorgesetzten», schreibt Ulrich Wille in seiner ersten Schrift zur Truppenausbildung im Jahr 1877.9 Wenn Wille von einer Disziplin sprach, «wie wir sie heut zu Tage brauchen», und sie als «Angewöhnung» und «moralische Zucht» beschrieb, so schien sich diese Disziplin von einer anderen, aus früheren Tagen stammenden Auffassung von Disziplin zu unterscheiden. Das neue, moderne Disziplinkonzept stützte sich weder auf Strafen noch auf den freiwilligen Gehorsam patriotischer Bürger. Die moderne Disziplin erschien vielmehr als Resultat eines Erziehungsprozesses, das die Truppen mental führbar machte sowie den Führungseinfluss der Offiziere von der starren Formelsprache der «Soldaten- und Formationsschule» löste und auf die Ebene einer mental-suggestiven Führung verlagerte.

      War das drillmässige Exerzieren bisher ein rein funktionaler Bestandteil der Gefechtsführung, bedingte die mentale Erziehung des Soldaten und des Truppenkollektivs formellen Drill beziehungsweise Drill als Erziehungsmittel. Eine «Angewöhnung» sollte die neue Disziplin sein – das heisst eine internalisierte Disziplin, wie sie nur durch Erziehung erzeugt werden konnte. Dies musste