Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199242
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zu führen, auch nicht durch Armeelinien und die Anlage von Grabensystemen nehmen lassen. Diese Stellungnahmen aus den Jahren 1917/18, sein Bericht über den Aktivdienst an die Bundesversammlung 1919 und seine Ausführungen in den «Kriegslehren» von 1924 zeigen, dass er gegen alle Empirie der industriellen Kriegführung der Jahre 1914/1918 an seinem Credo der Überlegenheit der soldatisch erzogenen Truppe und der imponierenden Führung der Offiziere festhielt. Dieser hoch idealistische Glaube gründete in einem Gesellschafts- und Geschichtsbild, welches dem Militär und dem Krieg eine zentrale Wirkkraft bei der Fortentwicklung der (Männer-)Nationen beimass.

      Krieg, Staat und Gesellschaft im Denken Ulrich Willes

      Willes Denken wurzelte tief im deutschen Idealismus und in der preussischen Militärtheorie. Er war mit der deutschen Staatsrechtslehre und der deutschen, neohegelianischen Geschichtsphilosophie des Fin de Siècle bestens vertraut. Die Elemente dieser Lehre und Philosophie reproduzierte er ebenso regelmässig wie seine Auffassung des Disziplinbegriffs und des Männlichkeitskonzepts. Hier wurzelt auch sein Begriff der Kriegstauglichkeit, der keineswegs utilitaristisch – rein gefechtstechnisch – verstanden werden darf. Krieg deutet er in Übereinstimmung mit der deutschen Staats- und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts als Überprüfung des erzogenen Männerheers und damit als Ausweis für die Überlebensfähigkeit und Existenzberechtigung nationaler Staaten.20 Vor diesem Hintergrund bewertete er die Entwicklung des soldatischen Männerpotenzials höher als das Entwicklungspotenzial ziviler Erziehung und Bildung der liberalstaatlich verfassten Gesellschaft, welche er nicht ablehnte, aber als Hindernis auf dem Weg zur Kriegstauglichkeit einstufte. «Die allgemeine Dienstpflicht, verbunden mit ernsthaftem Betrieb des Wehrwesens ist das letzte, das höchste Mittel der Volkserziehung in unserer Zeit. Nur dadurch kann die Menschheit männlich und gesund erhalten werden, in einer Zeit, wo das Wohlleben stetig zunimmt und die Kriege so viel seltener, und die Menschheit viel weniger als in früheren Zeiten durch Not und Elend und andre ähnliche Mittel der harten Schule des Lebens zu Männern erzogen wird. Darin liegt die hohe ethische Bedeutung des Wehrwesens, die nicht bloss bestehen bleibt, sondern nur grösser geworden ist, wenn es keine Kriege mehr gibt. Diesen Einfluss auf die Erhaltung der sittlichen Kraft, das heisst auf die Existenzberechtigung eines Volkes, kann ein Wehrwesen nur dann ausüben, wenn bei seiner Erschaffung, das was der Krieg erfordert, das einzige wegleitende ist.»21 Kern der deutschen Staats- und Geschichtsphilosophie war der Glaube, dass mit der «Erhaltung der sittlichen Kraft» die Kriegstauglichkeit erreicht und damit dem Krieg als Bewährungsinstanz Genüge getan werden könne – egal ob siegreich oder geschlagen. Wille war der Überzeugung, dass jeder Staat ein Heer haben müsse, sonst «verfaule er innerlich»: «Das ist eine Binsenwahrheit, die die Geschichte aller Völker in allen Zeiten lehrt. Das kriegstüchtigste Volk ist auch im Kampf des wirtschaftlichen Lebens das stärkste.»22

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      Drill als Mittel zur Erlangung von Kriegstauglichkeit: Formalausbildung auf dem Waffenplatz Bière (Bild: BiG).

      Die Armee wird damit zum Medium der gesellschaftlichen Erneuerung und Regeneration. Dies ist der gesellschafts-, geschichts- und staatstheoretische Hintergrund von Willes Militärpädagogik, welche tief im bellizistischen und militaristischen Glauben an die Funktion der Armee als Erzieherin der Gesellschaft wurzelt. Einer Gesellschaft, welche den geistigen und physischen Fortschritt in den Männern angelegt sah. Mit der «Erziehung des Mannes zum Manne» glaubte Wille die Nation für den kriegerischen und friedlichen Kampf der Nationen um die Weiterexistenz konkurrenzfähig zu machen.

      Fazit

      Wie ist es zu erklären, dass sich nach heftigem Richtungsstreit im schweizerischen Offizierskorps Willes Denken spätestens nach der Annahme des neuen Militärorganisationsgesetztes im Jahre 1907 als dominant erwies, wenn auch nicht hegemonial durchsetzte? Wille hatte mit seinem Konzept eine Antwort auf eine doppelte Problemlage: Er hatte eine Antwort auf die rasant zunehmende Führungsproblematik auf dem feuerintensiven Gefechtsfeld, welches keine geschlossenen Formationen und bald auch keine Schützenlinien mehr zuliess.23 Und er hatte eine Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung, welche als dekadent-verweichlicht gedeutet wurde und zunehmend von sozialen Spannungen geprägt war. Die nachhaltende Wirkung seiner Militärpädagogik auf die Schweizer Armee über den Zweiten Weltkrieg hinaus ist nur damit erklärbar, dass die Schweiz weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg Kriegsteilnehmer war. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde jedoch Willes preussisch-deutscher Erziehungsund Pflichtbegriff bei der jungen Offiziersgeneration, welche sich um die Zeitung Volk und Armee scharte, kritisch infrage gestellt.24 Die Erkenntnisse der gruppenorientierten Psychologie und Soziologie liessen Willes Erziehungskonzept als gescheiterter idealistischer Autoritarismus erscheinen.25 Den Reformern war aufgegangen, dass die Militärpädagogik Willes glauben machte, mit der besseren soldatischen Männlichkeit – mit besserem Soldatentum – Kriege gewinnen zu können. Ein Glaube, der 1945 ein zweites Mal enttäuscht wurde, aber in der Schweizer Armee trotzdem vorerst weiterlebte und erst in der Zeit nach den Oswald-Reformen Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts allmählich verblich.

David Rieder

      Enfant terrible

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      Fritz Gertsch als Oberstdivisionär, 1918 (Bild: Graphische Sammlung, Schweizerische Nationalbibliothek).

      Fritz Gertsch (1862-1938) gehörte um die Jahrhundertwende zu den umstrittensten Offizieren der Schweizer Milizarmee. Als menschenverachtender Soldatenschinder verschrien, als streitlustiger Militärpublizist über die Landesgrenzen hinaus bekannt, sorgte der umtriebige Instruktionsoffizier zeitlebens für Aufsehen und Unruhe im schweizerischen Offizierskorps. Er exponierte sich schon früh als harscher Kritiker der etablierten Ausbildungs- und Gefechtskonzepte und forderte eine Anpassung des für die Schweizer Milizarmee typischen republikanisch-egalitären Führungsund Erziehungsstils an denjenigen der damaligen Modellstreitkraft in Europa: die preussisch-deutsche Armee.

      Gertsch stammte aus einfachen Verhältnissen, als gelernter Hutmacher ohne nennenswerten Bildungsabschluss stellte er sich den Rekrutierungsbehörden in Bern. Seine Talente liessen ihn aber rasch die militärische Karriereleiter emporsteigen. Bereits mit 24 Jahren wurde er als junger Hauptmann für die Generalstabsschule I aufgeboten. In der intellektuell anspruchsvollen und herausfordernden Generalstabsausbildung geriet Gertsch allerdings erstmals an die Grenzen seiner intellektuellen Fähigkeiten. Er musste sich schmerzlich eingestehen, dass er für generalstäbliche Arbeiten nicht besonders begabt war. Stabsarbeiten, die für gewöhnlich stark theorielastig waren und ein grosses Mass an analytischem Denken voraussetzten, gehörten nicht zu seinen Stärken – auch später nicht, weshalb er bis zum Ende seiner Karriere eine tiefe Abneigung gegen die «Theoretiker» und das «Professorentum» im Generalstabsbüro hegte. Die Schlussqualifikation des Kurskommandanten der Generalstabsschule I und späteren Generalstabschefs, Arnold Keller, fiel entsprechend zwiespältig aus: «Schwach, eignet sich sehr gut zum Truppenoffizier».2 Gertschs militärische Fähigkeiten hätte man kaum pointierter umschreiben können, als es Keller tat. Gertsch konnte zwar in der Generalstabsarbeit nicht überzeugen, seinen Vorgesetzten gefiel er aber als willensstarker und schneidiger Offizier, der sich bei der Truppe durchsetzen konnte und dessen Eignung zum Truppenführer ausser Diskussion stand.

      In Anbetracht seiner kurz aufeinanderfolgenden Karriereschritte kann angenommen werden, dass Gertsch dem soldatischen Handwerk sehr zugetan war und in ihm schon früh der Wunsch reifte, seine Leidenschaft zum Beruf zu machen und sich ganz dem Dienst in Uniform zu verschreiben. So überrascht es nicht, dass er noch im selben Jahr nach der Absolvierung der Generalstabsschule ins Instruktionskorps übertrat.

      Im Instruktionsdienst eckte Gertsch allerdings schon früh an. Behutsames Vorgehen lag ihm nicht. Eine Affäre jagte die andere, eine Kampfschrift folgte der anderen. Launisch, ungehobelt und enorm stur – so das nicht gerade schmeichelhafte Bild, welches Zeitgenossen von ihm zeichneten. Mit seiner unversöhnlichen Art verstrickte