Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199242
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seine Entlassung aus der Instruktion gefordert. Stets konnte er aber seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, nicht zuletzt dank der starken Rückendeckung seines Mentors und Förderers Ulrich Wille. Mitte der 1890er-Jahre lernte er den charismatischen Waffenchef der Kavallerie und späteren Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg kennen – eine schicksalhafte Begegnung. Fortan fand Wille in Gertsch einen von tiefer Loyalität beseelten Jünger, der im Gleichschritt mit ihm einer strengen soldatischen Erziehung das Wort redete.

      Gertschs unbedachter Opfermut und seine von der Presse als «Gertschiaden» etikettierten schikanösen Instruktionspraktiken trieben ihn letzten Endes aber in den Abgrund. Der Abstieg des hitzköpfigen Wille-Protegés nahm in den Jahren 1910/11 seinen Anfang. Zuerst musste er wegen einer Pressepolemik als Brigadekommandant zurücktreten, kurz darauf wurde er infolge einer erbitterten Auseinandersetzung mit dem Chef der Generalstabsabteilung, Theophil Sprecher von Bernegg, als Instruktionsoffizier entlassen.3 Im abschliessenden Urteil hiess es: «Er hat bei seinem masslosen, krankhaft gesteigerten Selbstgefühl den Begriff der Unterordnung verloren.»4 Auf ausdrücklichen Wunsch Willes wurde Gertsch zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwar wieder als Brigadekommandant reaktiviert und mit der 1917 erfolgten Beförderung zum Oberstdivisionär sogar in den erlauchten Kreis der allerhöchsten Truppenführer, der Heereseinheitskommandanten, aufgenommen; doch der neuerliche Karriereschub war nur von begrenzter Dauer. Von Neuem wurden Klagen über seinen übertriebenen Exerzierdrill laut, die im Herbst 1918 in einer parlamentarischen Interpellation mündeten.5 Durch einen Bundesratsbeschluss wurde Gertsch im Januar 1919 schliesslich von seinem Kommando enthoben und bis zu seiner endgültigen Entlassung aus der Wehrpflicht im Juni 1926 zur Disposition gestellt.6 Als Privatmann betätigte er sich danach unermüdlich als Militärpublizist, manövrierte sich aber mit seiner Auffassung, die Schweizer Armee sei in eine «Maschinengewehrarmee» umzuwandeln, im dominanten Militärdiskurs zusehends ins Abseits. Dem nicht genug, musste er sich bis zu seinem Lebensende mit ernsthaften Geldsorgen herumschlagen, obschon er in zweiter Ehe ein vermögender Mann geworden war.7

      Es ist jedoch nicht primär diese von Affären, Enthebungen und Comebacks gekennzeichnete militärische Laufbahn Gertschs, die eine historische Auseinandersetzung mit ihm rechtfertigen würde. Sein persönliches Leben ist zu ereignisarm, und überdies auch quellenmässig zu wenig dokumentiert. Was ihn hingegen interessant macht, ist die Position, die er als umtriebiger Offizier im schweizerischen Militärwesen in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs einnahm. Er gehörte im Kontext des Richtungsstreits im Offizierskorps zu den wichtigsten Akteuren und den profiliertesten Militärpublizisten. Keiner benannte die Adaptionsprobleme der schweizerischen Milizarmee an die rasante Gefechtsfeldentwicklung schonungs- und taktloser als er. Der besagte Richtungsstreit um die Neuorientierung der Milizarmee war zudem begleitet von medienwirksamen Affären, zahlreichen persönlichen Auseinandersetzungen und einer Reihe von öffentlich diskutierten Disziplinarverfahren, von denen ein nicht geringer Teil auf Gertsch entfiel.

      Disziplin und Appell

      Der junge Gertsch trat 1886 just in einer Zeit in den Instruktionsdienst ein, als sich infolge einer gespannten geopolitischen Lage und angesichts einer gewandelten Kriegführung auf einem stetig anspruchsvoller werdenden Gefechtsfeld die Anforderungen an die Armee und ihre Führung dramatisch veränderten. Der mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit fortschreitende Innovationsschub in der Waffentechnologie, der wiederum tief greifende Auswirkungen auf die gebräuchlichen Kampfformen und die Truppenausbildung hatte, stürzte die Armee in eine tiefe konzeptionelle Krise. In der Folge bildete sich im Offizierskorps eine Reformbewegung heraus, die in Anbetracht der gestiegenen Komplexität und Brutalität des Gefechtsfelds die betont zivilistische, dem «soldat citoyen» angemessene Ausbildung als völlig untauglich beurteilte. In Anlehnung an die preussisch-deutsche Modellstreitkraft und nachhaltig beeinflusst durch das Schriftgut des Kavallerie-Waffenchefs Ulrich Wille erblickten diese Offiziere insbesondere in der Stärkung der Offiziersautorität und der bedingungslosen Subordination des Soldaten den Schlüssel zum Erfolg. Sie beabsichtigten daher, das republikanisch-egalitäre Verhältnis von Mannschaft und Führung neu zu definieren. Doch die implizite Vorbildfunktion der deutsch-kaiserlichen Armee mit ihren strengen Exerzierformen trug dieser sogenannten «Neuen Richtung»8 wiederholt den Vorwurf einer «Verpreussung» der Schweizer Armee ein.9 Ferner wurden die Anhänger des von Wille initialisierten «Neuen Geistes» infolge ihres überaus selbstbewussten Auftretens und ihrer kleidsam geschneiderten Uniformen wiederholt als «Gigerln» oder «Gockel» etikettiert und gleichzeitig beschuldigt, einen fremdländischen Geist in die Armee eingeschleppt zu haben.

      Dass Gertsch schon früh vom «Neuen Geist» im Offizierskorps erfasst wurde, zeigt sich in seiner 1889 von der Offiziersgesellschaft preisgekrönten Schrift Die Ausbildung des Schweizerischen Infanterieoffiziers und die Forderung der Gegenwart.10 Darin propagierte er das Konzept des strengen und eindrucksvollen Offiziers, der seine Unterstellten sicher und energiegeladen zu Soldaten erzieht und von ihnen jederzeit – sei die Lage auch noch so prekär – bedingungslosen Gehorsam abfordern kann. In solchen imponierenden Offizieren erblickte er das probate Rezept, um die im Vergleich zu den stehenden Heeren Europas kurzen Ausbildungszeiten hinreichend zu kompensieren. Denn «eine richtige soldatische Schule muss also auch der Schweizer durchmachen, soll er ein brauchbarer Wehrmann werden. […] Ohne Disziplin keine Armee.»11 Sein Aufsatz war keineswegs nur das zufällige Erzeugnis eines mit einem ausgeprägten Disziplinverständnis veranlagten Instruktionsoffiziers. Die Schrift war ein unverkennbares Produkt der seit den 1880er-Jahren herrschenden Malaise in der schweizerischen Gefechts- und Truppenführung.

      Dass Gertsch seine alternativen Ausbildungsmodelle auch konsequent umzusetzen gedachte, wurde schon kurz nach Veröffentlichung seiner Preisschrift evident. Seine geltungssüchtigen, despotischen Marotten und seine schikanösen Exerzier- und Disziplinierungspraktiken, die auf die Integrität der kantonalen Milizen keine Rücksicht nahmen, führten zu diversen Anklagen durch die Presse und zu anschliessenden Protesten in der Öffentlichkeit gegen einen angeblich grassierenden Militarismus im Offizierskorps. Aber anstatt sich ruhig zu verhalten und zuzuwarten, bis wieder Ruhe in den Blätterwald und der Bevölkerung eingekehrt wäre, entschied sich Gertsch, eine Abhandlung mit dem Titel Disciplin! oder Abrüsten!12 zu verfassen. In dieser äusserst polemischen Streitschrift sprach er der Armee ihre Kriegsbereitschaft ab und bezeichnete sie als «nicht feldtüchtig». Seines Erachtens fehlte dem Schweizer Milizheer zur «Feldtüchtigkeit» aber nicht etwa modernste Bewaffnung oder eine noch grössere Truppenstärke, sondern primär Soldatendisziplin («Appell») und Offiziersautorität («Adresse»). Diese beiden Prämissen identifizierte er als die zentralen Faktoren zur Überwindung der personellen und materiellen Inferiorität der Schweizer Armee im Vergleich zu den grossen stehenden Heeren der Nachbarländer.13

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      Ätzende Kritik an Gertschs Erziehungsmethoden: «Schweizerische Militärdressur nach idealem Muster» (Bild: Der neue Postillon, Dezember 1898, S. 1).

      Die Resonanz auf sein Pamphlet war beeindruckend, wenngleich das Medienecho mehrheitlich aus Häme und Kritik bestand. Spätestens jetzt war Gertsch der bekannteste Soldatenschinder des Landes und der Inbegriff für das im Offizierskorps angeblich grassierende «Preussentum». Seine Forderungen nach einem neuen Offiziersstandesbewusstsein und einer strengen soldatischen Erziehung stiessen inner- wie ausserhalb des Offizierskorps auf grossen Widerstand. Namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Armee veröffentlichten scharfe Repliken und wiesen die Unterstellung, die Schweizer Armee sei kriegsuntauglich, entschieden zurück. Die von Gertsch nach preussisch-deutschem Leitbild gedrillten Soldaten würden nicht der allgemeinen Anschauung des uniformierten Schweizer Bürgers, der – obschon im Wehrkleid – primär Staatsbürger bleibt, entsprechen, sondern vielmehr an mechanische Puppen, das Spottbild preussischer Soldaten, erinnern. Selbst der Vorsteher des Militärdepartements, Bundesrat Emil Frey, sah sich nach einer Interpellation der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission genötigt, zur «Broschüre Gertsch» Stellung zu nehmen. Vor dem Plenum gestand er vorderhand ein, dass es Mängel im schweizerischen Heerwesen gäbe, doch er war nicht bereit, sich für die inhumanen Disziplinierungs- und Erziehungspraktiken