Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199242
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der asiatischen Völker die christlichen Nationen vor die grössten kriegerischen Aufgaben stellen kann, wenn es nicht gelingt, diese Völker für das Christentum zu gewinnen.»37 Diese Argumentationen mussten jedoch selbst in den Ohren der Jungakademiker etwas weit hergeholt tönen. Im Zentrum des Denkens Theophil von Sprechers stehen klar bellizistische und militaristische Vorstellungen. Das immer wieder verwendete Moltke-Zitat «Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen» durfte auch bei von Sprecher nicht fehlen.38

      Auch Leutnant Felix Lüssy stellte diesen Gedanken an den Anfang seines Referates «Militärdienst in der Schweiz», das er im Rahmen der «Centraldiskussion» des Zofingervereins von 1912 hielt. Wie Sprecher sieht sich Lüssy herausgefordert, zur sozialistischen Kritik des Militärs und des Kriegs Stellung zu nehmen.39 Lüssy leitet dabei sein positives Bekenntnis zur «Notwendigkeit des Krieges» aus der Hegelianischen Staatsund Geschichtsphilosophie ab: Der Sinn des menschlichen Lebens sei die «Menschheitsentwicklung» zur Freiheit. Bewegendes Element dieser Entwicklung sei der physisch-geistige Machtkampf zwischen den zu staatlicher Souveränität und damit Individualität gelangten Völker. Jedem Volk komme eine ganz bestimmte Eigenart zu, welche die Nation in der Weltgeschichte zu verwirklichen, d. h. zu erkämpfen und durchzusetzen habe.

      Vor dieser Gedankenfolie versucht Lüssy, die sozialistischen und bürgerlichen Friedenstheorien zu widerlegen. Der sozialistischen Idee des Klassenkampfs und der klassenlosen Gesellschaft hält Lüssy die reine inhaltslose Entwicklung der Individualität der Menschen und des Staates entgegen: «Nicht irgend eine Frage, nicht irgend eine Lösung, die Bewegung als solche ist Endaufgabe und Endziel zugleich.» Und diese «ewige Evolution und Revolution bedarf notwendig der grossen Krisen, die wir Kriege […] nennen». Denn jede «Bewegung, verdanke sie politischen, sozialen oder Rassenströmungen ihr Dasein, geht auf ihren Höhe- und Brennpunkten in Kampf um ihre Existenz, um Sein oder Nichtsein über» und dieser Todeskampf könne nur als Krieg ausgetragen werden.40 Daran änderten auch die Weltwirtschaft und die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten nichts. Die Internationalisierung der Wirtschaft sei lediglich «äusserlich übereinstimmende Betätigungsgestaltung innerlich verschiedener Individuen», und die «All-Einheit der Kulturgemeinschaft» und ihre völkerverbindenden Tendenzen hält Lüssy für ein «Hemmnis der Menschheitsbewegung»: «Die Erhaltung der Eigentümlichkeit seiner nationalen Kraft und Bildung ist für jedes Volk erste Pflicht: im Zusammentreffen der Völker ist das Ausleben und sich Durchsetzen nationaler Eigenkräfte stärkster Faktor der Weltentwicklung.»41 Getreu dem hegelschen Denkschema erkennt Lüssy die «Träger dieser gewollten Bewegung» in den «Staaten und Nationalitäten», um dann den Meister selbst zu paraphrasieren: «Die Weltgeschichte, die sich bestimmt nach dem Erfolg dieser Kämpfe von Tendenzen und Ideen, von Revolution gegen Tradition, von Expansionskraft gegen Senilität, ist das Weltgericht.»42 Vor diesem Hintergrund fällt es Lüssy leicht, das Konfliktlösungspotenzial des Völkerrechts und der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu erledigen: «Das Völkerrecht aber in die Kriege, in denen sich die Fortbildung der Weltgeschichte vollzieht, hineintragen zu wollen, wäre lächerlicher Traum.» Eine Nation, die zum Schiedsrichter läuft, wenn «Lebensfragen auf dem Spiele stehen», sei «entschieden dekadent», wie derjenige, der Kriege für ein «Übel» halte: «Nur diejenige (Nation), die in solchen Momenten fähig ist, alle Greuel und Schrecken eines Krieges entschlossen, ja in freudiger Bejahung, in einem aufjauchzenden Kraftgefühle auf sich zu nehmen, ist wert, weiter zu bestehen. Solche Kriege bedeuten […] eine Bereicherung des Menschenlebens und in der Auslösung seiner stärksten Potenzen eine Befreiung des Individuallebens.»43 Hier gelingt es Lüssy, die beiden Aspekte der hegelschen Kriegsphilosophie auf den Punkt zu bringen: den Todeskampf um die Individualität des (männlichen) «Bürgers», die im Todeskampf um die Individualität des staatlich verfassten Volkes aufgeht.

      Seine tief hegelianisch eingefärbte Apologie des Kriegs bezieht Lüssy primär bei den zeitgenössischen deutschen Militärtheoretikern (Moltke, von der Goltz, Bernhardi, Freytag-Loringhofen und Jähns), aber auch bei Nietzsche, Stammler und Jellinek. Selbst Clausewitz’ Theorie der Kriegführung wird für eine vereinfachende geschichtsphilosophische Rechtfertigung des Kriegs vereinnahmt. Die einzig mögliche Textpassage in Vom Kriege – «Nur wenn Volkscharakter und Kriegsgewohnheit in beständiger Wechselwirkung sich gegenseitig tragen, darf ein Volk hoffen, einen festen Stand in der politischen Welt zu haben» – wird isoliert und als geschichtsphilosophische Fundamentalaussage verwendet.44 Clausewitz hat diese Aussage im Kapitel über die «Kühnheit» des Feldherren formuliert und zum Ausdruck bringen wollen, dass unter den modernen Verhältnissen der Wirtschaftsgesellschaft «die kühne Führung» des Kriegs notwendig sei, um den Geist des von Wohlstand und der «Weichlichkeit des Gemütes» geprägten Volkes zu beeinflussen und um ein Gleichgewicht von «Volkscharakter und Kriegsgewohnheit» herzustellen.45 Clausewitz postuliert die kühne Führung des Kriegs, um die von steigendem Wohlstand geprägten Wehrpflichtigen ohne «Kühnheit» mitzureissen. Einen Zusammenhang zwischen der militärischen Schulung der Völker und deren Bestand «in der politischen Welt» leitet Clausewitz weder an dieser noch anderen Stellen ab, entscheidend ist die kühne Kriegführung.46 Ähnlich wurden die Moltke-Worte «Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner» und «Wir können die Armee schon im Innern nicht entbehren für die Erziehung der Nation» beliebig als grosse Worte grosser Autoritäten eingesetzt. Neben diesen Konstruktionen, welche den Wert und die Existenzberechtigung des Individuums, des Volks und des Staates von der Probe eines möglichen Kriegs abhängig machten, mussten staatsrechtliche Normen und Kommentare zur Neutralität blass wirken und wurden als gut gemeinte akademische Konstrukte, «um die sich aber gegebenenfalls kein Mensch kümmern wird», beiseitegestellt.47

      Die Darlegungen von Leutnant Lüssy zeigen, dass militaristische und bellizistische Ideenkomplexe nicht nur von Schlüsselpersonen der schweizerischen Armee vertreten wurden, sondern von der jungen Offiziersgeneration aufgenommen und weitertransportiert wurden. Als Folie des staats- und geschichtsphilosophischen Synkretismus in der Militärliteratur erscheint seit den 1860er-Jahren vermehrt der Ausdruck «Kampf um die Existenz». Eine Figur, die sozialdarwinistische und rassistische Konstruktionen vorwegnahm und sich dazu eignete, die Vorstellung des Vernichtungskampfs der Streitkräfte auf den Staat und auf das Volk auszudehnen.48

      Die hier vorgelegten Beispiele und die Lektüre der Militärpresse des 19. Jahrhunderts lassen einige vorläufige Schlüsse zu. Bis zur Mitte des Jahrhunderts werden der schweizerische Nationalstaat und die schweizerische Milizarmee nur selten mit der idealistischen Nations-, Staats- und Kriegsdeutung in Bezug gesetzt. Johannes und Hans Wieland versuchen, die Legitimität schweizerischer Streitkräfte durch eine Theorie der bewaffneten Neutralität zu begründen. Die romantischen Vertreter der Volksbewaffnung äussern sich zu Staat, Geschichte und Streitkraft nur andeutungsweise, setzen jedoch Volk und Streitkraft gleich und orientieren sich an regenerierbaren Nationaleigentümlichkeiten der ethnisch-national definierten Völker.

      Nach der Jahrhundertmitte fliesst bei den Vertretern der nationalen Milizarmee (Rüstow, Rothpletz, Welti) ein Staatsverständnis ein, welches an die idealistische Machtstaatstheorie anschliesst. Vieles spricht dafür, dass sie sich dabei von der Staatstheorie Lorenz von Steins beeinflussen liessen.

      Auch in der schweizerischen Historiografie ist die Beobachtung zu machen, dass nach 1870 in der Alten Eidgenossenschaft des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts eine Grossmacht im Sinne Rankes gesehen wird und die Schweiz des späten 19. Jahrhunderts in Abhebung zur ehemaligen Grossmacht nun als Machtstaat von kleinem Format im europäischen Mächtekonzert definiert wird: als «trotz allem […] ernst zu nehmende Macht» soll die Schweiz erscheinen, die sich dem Existenzkampf um «Heil» oder «Untergang» zu stellen vermag.49

      Unverkennbar ist seit den 1860er-Jahren auch in der Schweiz eine intensivierte Deutung militärischer Stärke und Kriegstauglichkeit zur Legitimation des staatlichen Souveränitätsanspruchs und eine Deutung des Krieges als Prüfung dieses Anspruchs zu beobachten. In den 1890er-Jahren ist jedoch eine Akzentverschiebung zu einer primär militaristischen Interpretation des Militärs und zu einer bellizistischen Sichtweise des Kriegs zu verzeichnen. Selbst Carl Hilty, Staatsrechtsprofessor und Oberauditor der Armee von 1892 bis 1909, der im Offizierskorps einen «Felsen» erblickte, an