Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199242
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von der Militärkritik der Aufklärung zwar immer wieder als alternatives Streitkräftekonzept zu den stehenden, monarchisch-absolutistischen Soldheeren und ihrer Kriegführung dargestellt. Der Schweiz fehlte aber am Ende des Ancien Régime nicht nur die Einheit der Staatspersönlichkeit und der ethnisch-kulturellen Nation, sondern auch die Einheit des Heeres, obwohl die aufklärerischen Visionen auch die Bildung einer nationalen Streitkraft einschlossen.2

      Im Gegensatz zur Mehrzahl der europäischen Nationalstaaten war die moderne Schweiz auch nicht eine Kriegsgeburt: weder als gewaltvoller revolutionärer Aufbruch gegen die eigenen und fremden monarchischen Herrschaftsträger wie in Frankreich noch als Befreiungsakt gegen die imperiale Herrschaft Napoleons wie in Preussen-Deutschland, Spanien oder England. Die Schweiz verdankte ihre Existenz nach 1814 den europäischen Grossmächten, welche an der Weiterexistenz der Eidgenossenschaft ein Interesse hatten. Die militärisch-nationale Selbstdarstellung und die Kriegsdeutung konnten im 19. Jahrhundert in der Schweiz nicht direkt an Befreiungs- oder nationale Einigungskriege anschliessen, sondern musste in die Vergangenheit und Zukunft und damit auf die Ebene der Historiografie und der Geschichtsphilosophie ausweichen. Einesteils wurde auf die erfolgreichen Schlachten der Gründungs- und Wachstumsphase der Eidgenossenschaft zurückgegriffen, andernteils die idealistische Staats- und Geschichtsphilosophie und ihre Kriegstheorie benutzt, um die nationalstaatliche Entwicklung der Schweiz zu fundieren. Dieses geschichtsphilosophische Konzept hatte den Vorteil, Höhepunkt (1515), Niedergang (Ancien Régime) und Wiederaufstieg (1830/1848) des schweizerischen «Volkes» mit der vernunft- und fortschrittsorientierten Volksund Weltgeisttheorie zu verbinden. Während sich die Vertreter der Volksbewaffnung statisch-rückwärtsgerichtet am Vorbild der alten Eidgenossen orientierten, beriefen sich die Vertreter der nach dem europäischen Standard der Kampfführung ausgerichteten Milizarmee mehr und mehr auf das Fortschrittskonzept der idealistischen Staats- und Geschichtsphilosophie. Nach 1830 waren es deutsche liberale Emigranten wie der an der Berner Hochschule und an der Zentralschule Thun als Professor für Militärwissenschaften lehrende Rudolf Lohbauer, welche dem nationalen Militär der Schweiz eine idealistische Theorie vermittelten. Die Schweiz solle sich nicht dem «Naturalismus der Landesverteidigung durch die local zerstreute Menge» anvertrauen, sondern «dem eigenen Geiste seiner Nationalität, mit dem ganzen Beruf seiner Geschichte und der Bedeutung seines Volks in der Weltgeschichte» folgen, damit «der Geist das Schwert ergreifen und zum Streit und Siege lenken» könne.3 Demgegenüber hatten die Romantiker Zschokke und von Tavel in ihren Schriften auf eine explizite Deutung des Krieges verzichtet: Krieg erscheint implizit als natürlicher Vorgang unter den Völkern, deren Mitglieder auch über natürliche kriegerische Anlagen verfügten.4 Die Aktivierung der populären und gelehrten Überlieferung des Kriegertums der Alten Eidgenossen erlaubte, Orientierung für eine Wiedergeburt schweizerischer kriegerischer Tugenden zu gewinnen. Die Romantiker befassten sich vornehmlich mit der zugeschriebenen natürlichen kriegerischen Begabung der Schweizer und ihrer möglichen Anwendung in der Kriegführung. Auch ihr Widersacher, Johannes Wieland, ein Vertreter regulärer Kampfführung, konzentrierte sich vollständig auf die Mittel der Kriegführung. Als deren Zweck erscheint bei ihm neben der Bewahrung der Unabhängigkeit, Integrität und Ehre des schweizerischen Staates in prononcierter Weise die bewaffnete Verteidigung der schweizerischen Neutralität. Die militärische Verteidigung des von den Grossmächten garantierten neutralen Territoriums der Schweiz wird von Wieland in paradigmatischer Weise ausgeführt.5 An einer einzigen Stelle schlägt Wieland einen beinahe geschichtsphilosophischen Ton an, wenn er zur «Widerlegung des Wahnes, dass eine kraftvolle Einrichtung des Wehrstandes in der Schweiz nutzlos sey», ansetzt. Den «schwache(n) Theil unserer Nationalstellung» erblickt er im politischen Unwillen, die Unabhängigkeit der Schweiz zu verteidigen, und warnt davor, sich erneut auf die Gnade der Grossmächte zu verlassen: «Zweimal ist die Schweiz gefallen und durch fremden Machtspruch gerettet worden […]. Entweder wir bestehen die Probe, und wir sind ehrenvoll auf lange Zeit gerettet; oder wir wiederholen das traurige Schauspiel schweizerischer Zwietracht vom Jahr 1798 […], so wie das vom Jahr 1813 […] und dann ist die Eidgenossenschaft aufgelöst.» Die Schlussfolgerungen aus den Niederlagen von 1798 und 1813 sind angesichts der historischen Tatsachen keineswegs zwingend. Wieland übergeht den historischen Kontext der Existenz der Schweiz und unterwirft sich der Deutung des Krieges als Prüfungsinstanz nationalstaatlicher Existenzberechtigung: «Nachdem sie dreimal der Welt ihr Unvermögen vor Augen gelegt haben wird, mit eigenem Schwerdt die Unabhängigkeit zu behaupten, muss sie, und mit Recht, Schuld und Schmach des Untergangs an sich selbst tragen.»6 Diese Aussage steht bei Wieland singulär da. Es gibt keine weiteren Formulierungen in seinem Werk, die auf die Rezeption eines geschichtsphilosophischen Konzeptes schliessen lassen.

      Im Banne der Staats- und Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus: Wilhelm Rüstow und Emil Rothpletz

      In den 1860er-Jahren traten jedoch mit Wilhelm Rüstow und Emil Rothpletz zwei Militärpublizisten auf, welche die Staats- und Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus auf die Schweiz übertrugen und die Entwicklung des schweizerischen Nationalstaates und seiner Streitkraft mit der idealistischen Kriegsdeutung verbanden. Beide waren «1848er»: Rüstow war ein preussischer Offizier, der 1850 eine Schrift mit dem Titel Der deutsche Militärstaat vor und während der Revolution geschrieben hatte, in der er das stehende Heer als Instrument der Unterdrückung und Unfreiheit geisselt. Rüstow wurde darauf wegen Hochverrats verurteilt, entzog sich jedoch nach einem halben Jahr Festungshaft der Strafe und flüchtete in die Schweiz.7 Der Schweizer Milizoffizier Rothpletz hatte sich als Student 1848 an den Barrikadenkämpfen in Berlin beteiligt. Er ist dem politischen Aargauer Radikalismus zuzurechnen.8 Rüstow entfaltete in der Schweiz eine reiche militärpublizistische Tätigkeit. Rothpletz trat Ende der 1860er-Jahre mit seiner Anleitung zum militairischen Denken und Arbeiten: die Schweizerische Armee im Feld hervor. Beide aspirierten auf den 1874 neu geschaffenen Lehrstuhl für Militärwissenschaften an der ETH, den Rothpletz 1878 definitiv erhielt, worauf sich Rüstow erschoss. Rothpletz bekleidete den ETH-Lehrstuhl bis 1897.

      Mit dem aus Preussen exilierten, linksliberalen Rüstow war ein herausragender militärtheoretischer Kopf in die Schweiz gekommen. Rüstow musste von der Feder leben, was seine publizistische Produktion enorm steigerte. Daneben gelang es ihm jedoch nicht, eine kontinuierliche Verwendung als Instruktor und Militärsachverständiger der schweizerischen Milizarmee zu erlangen. Neben Abhandlungen zum schweizerischen Wehrwesen verfasste Rüstow historische und militärtheoretische Werke sowie Kommentare zu den europäischen Kriegen vom Krimkrieg bis zum Ersten Balkankrieg. In seinen allgemeinen militärtheoretischen Büchern befasst sich Rüstow nicht nur mit «Kriegführung», sondern auch mit «Kriegspolitik» und der «Stelle des Krieges in der Weltordnung». Nach Lohbauer, der kaum publizierte, leistete Rüstow mit seinen zahlreichen Publikationen einen herausragenden Beitrag zur Deutung des Kriegs aus der Sicht der liberal-demokratischen Republik.

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      Weggefährten und Konkurrenten, Offiziere und militärische Denker: Emil Rothpletz und Wilhelm Rüstow (Bilder: BiG).

      Rüstow arbeitete in seinen Betrachtungen über den «Krieg», vor dem Hintergrund der Konstruktion des physisch-geistigen Machtkampfs der staatlich verfassten Völker, dessen Natur- und Kulturorientierung heraus. «In der Natur ist nun eine Erscheinung, welche sie vollständig durchdringt, der Kampf, das ewige Verändern der Formen, Vergehen und Entstehen, das Werden […]. Den Krieg aber, welchen die Menschen untereinander führen, dürfen wir mit Recht als eine besondere menschliche Form jenes allgemeinen Werde-Kampfes in der Natur hinnehmen, mit um so grösserem Recht, da der Mensch, wie vernunftbegabt er sein möge, ausserdem auch ein sinnliches Wesen ist und dadurch der Naturgeschichte verfällt, unter den allgemeinen Naturgesetzen steht.»9 Revolution und Krieg würden die «schadhaften Theile der Maschine» zusammenschlagen und sie durch neue ersetzen, «und bald geht das Werk wieder rüstig seinen ruhigen Gang».10 Rüstow nannte diese Betrachtungsweise in Abgrenzung zur militärischen Strategie «Allgemeine Kriegspolitik oder politische Strategik». Während es die Aufgabe der militärischen Strategie war, «eine Anzahl zu gewinnende Schlachten zweckmässig (zu) verknüpfe(n)», erhob sich darüber «eine höhere, die Politische Strategik, welche die Kriege eines Volkes wiederum dermassen