Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert La pensée militaire suisse au 20e siècle. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199242
Скачать книгу
klassischen Kampforganisation orientierten Milizarmee unter dem Horizont der auf die Staatsexistenz radikalisierten Kriegsdeutung zusammengebracht. Hier knüpfte auch die «Neue Richtung» an, welche ebenfalls von den absoluten Begriffen des Kriegs und der Existenzvernichtung des Staates ausging, aber das Verhältnis von Bürger und Soldat umkehrte und am Soldaten der stehenden (monarchischen) Armeen Richtmass nahm und im Bürger nicht den Staatsbürger und soldat-citoyen, sondern den Bourgeois, den zum Soldaten zu erziehenden Staatsangehörigen, sah.26

      Kriegsfähigkeit als dominante Legitimation der schweizerischen Staatsexistenz

      Für die Entwicklung des schweizerischen Militär-, Kriegs- und Staatsverständnisses bedeutete die Rezeption von Elementen der idealistischen Staats- und Geschichtsphilosophie, wie sie in den Schriften von Rüstow und Rothpletz zum Ausdruck kamen, einen markanten Umbruch. Hans Wieland, der renommierte Adjunkt des Militärdepartements, schloss seine politisch-militärischen Studien zur schweizerischen Neutralität 1861 noch sehr zurückhaltend mit idealistischen Konstruktionen: «Niederlage ist Sieg […] und sichert unsere Existenz als Volk, als Staat.»27 Damit hat das Volk bewiesen, dass es schlagen kann und auch siegen könnte. Aymon de Gingins-La Sarraz verzichtete 1860 in seinen Gedanken zur Guerre défensive en Suisse auf jegliche staats- und geschichtsphilosophischen Überlegungen und ging ausschliesslich von einer wahrscheinlichen Bedrohung durch Frankreich aus.28 Nach 1870 fliesst die idealistische Kriegsdeutung zunehmend in die Militärdebatte ein und wird nach 1890 zum festen Bestandteil des Militärdiskurses. Als herausragende Beispiele können Texte von Ferdinand Affolter, Theophil von Sprecher und Felix Lüssy herbeigezogen werden, um die Umorientierung in den Köpfen der führenden Offiziere (Affolter und Sprecher) und des «unbekannten» Subalternoffiziers (Felix Lüssy) zu dokumentieren. Ferdinand Affolter dozierte von 1884 bis 1925 Militärwissenschaften an der ETH, Theophil von Sprecher war von 1905 bis 1919 Generalstabschef der Schweizer Armee, Felix Lüssy war ein akademisch gebildeter Leutnant, der 1909 brevetiert wurde.

image

      Militärtheoretiker und Radikaler Exponent der «Neuen Richtung» im Fin de Siècle: Ferdinand Affolter (Bild: BiG).

      Am engsten an das von Rüstow und Rothpletz verbreitete Verständnis von Krieg, Staat und Geschichte schloss Ferdinand Affolter an. Wie Rothpletz fasste er seine Vorstellungen über die Entwicklung der Milizarmee und des Kriegs in radikalisierten, absoluten Begriffen. Neben der totalen Mobilisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg forderte Affolter eine wesentliche Dynamisierung des Führungsverhaltens der Offiziere. Affolter ging sogar unter Strapazierung der Staatsindividualitätslehre und des Existenztheorems so weit, die Steigerung der schweizerischen «Wehrkraft bis zum Äussersten» zu verlangen, um auf den Neutralitätsstatus verzichten zu können: «[D]ann wird unser Staat seine volle Individualität wieder erlangen und sich nach allen Seiten mit seiner vollen Thatkraft und That geltend machen, dann wird aus unserm politischen Wörterschatz das Wort ‹neutral› verschwinden.»29 Affolter war als Einziger bereit, die absoluten Begriffe von Individualität, Kampf, Existenz und Negation einzulösen und konsequenterweise auf die Neutralität zu verzichten und zu einer tief gehenden Restrukturierung der Milizarmee zu schreiten, wie sie Emil Rothpletz skizziert hatte: «Der Krieg einer entwickelten Nation kann nur ein Volkskrieg sein, ein Krieg, wo alle Kräfte eines Staates eingesetzt werden und eingesetzt werden müssen. Die Wehrkraft eines Volkes umfasst daher alle materiellen und geistigen Kräfte eines Staates, die immer nur für den hohen Zweck nutzbar gemacht werden können, und erscheint so als ein Produkt der Grösse der materiellen Mittel und der geistigen Willenskraft.»30 Neben der Instrumentalisierung der Schule aller Stufen für die Militärausbildung – hier deckt er sich mit den Vorstellungen der «radikalen» Armeereform um Bundesrat Welti – fordert Affolter eine grundlegende Umwandlung der militärischen Kaderausbildung in eine «Führer»-Erziehung – hier mit den Vorstellungen der «Neuen Richtung» um Ulrich Wille. Um die dynamisierten und verabsolutierten Vorstellungen des allgemeinen Volkskriegs, den agonalen Kampf um die Staatsexistenz zu operationalisieren, hält Affolter vor allem eine grundlegende Neugestaltung des Führerverhaltens und dessen Voraussetzungen, die Selektion, Ausbildung, Entwicklung und Formung des Offizierskorps für notwendig. Seine Vorstellungsbilder zur Reform des Offizierskorps entwickelt er an zwei Begriffen, die später zu Schlüsselbegriffen der Offiziersbildung werden: Männlich(keit) und Führer(tum). «Der Offizier in der Eigenschaft als Führer im Felde wie als Lehrer auf dem Exerzierplatz muss dem Soldaten als Inbegriff der Männlichkeit in allen Lagen des Lebens überhaupt und in denen des militärischen ganz besonders erscheinen. Es darf daher kein Mann zum Führer bestimmt oder als Führer gelassen werden, dem der leiseste Makel des Unmännlichen anhaftet.»31 Mit den Leitbildern «Männlichkeit» und «Führertum» lassen sich idealistisch und darwinistisch eingefärbte Machtstaatsvorstellungen individualisieren und in ein Erziehungsprogramm umsetzen.32 Eine zentralisierte, mit der militärischen Ausbildung aufs Engste verbundene «Staatsschule» soll die Wehrkraft bis aufs Äusserste steigern, und eine gestraffte, einheitliche Offiziersselektion und -ausbildung soll ermöglichen, eine militärische «Führerschaft» zu schaffen, die keinerlei politischen, regionalen, föderalistischen oder sozialen Einflüssen unterliegt. Die Vision der Bildung eines sozial und politisch autonomen, rein militärischen Führerkorps ohne staatsbürgerliche Bindung leitete Affolter. Die «Staatsform» soll bei der Schaffung von «Führern, die alle Attribute als solche besitzen», keinen Einfluss haben, sondern «nur der feste unabänderliche Wille, sich wehrhaft zu machen […], um im Momente der Gefahr auch wirklich wehrhaft zu sein».33 Der Krieg als Todeskampf um die staatliche Existenz des Volkes wird zum höchsten Orientierungspunkt aller staatlichen Institutionen und Massnahmen erhoben. Affolter verband damit ein ebenso militaristisches wie virilistisches Denken, das in den 1890er-Jahren Raum gewinnen und zu den zentralen Elementen des Neuen Geistes gehören wird.

      Wie uneinheitlich und wie angelesen das Denken der führenden Offiziere der Schweizer Armee war, zeigt ein Vortrag von Theophil Sprecher von Bernegg, den er für eine Studentenkonferenz schrieb. Sprecher publizierte ausserhalb der militärischen Tagespolitik kaum. So war er gezwungen, «sich selbst einmal genau Rechenschaft zu geben über die Frage der Rechtmässigkeit von Waffendienst und Krieg vom Standpunkt der christlichen Gebote aus», als er 1911 die Einladung der Christlichen Studentenkonferenz annahm, um über «Militärwesen, Christentum und Demokratie» zu sprechen.34 Christlich und sozialistisch orientierte Studentenzirkel zweifelten in dieser Zeit den Sinn von Militär und Krieg grundlegend an. Entsprechend intensiv versuchte deshalb Sprecher, Militär und Krieg ethisch zu fundieren, und verstrickte sich dabei in weitläufige bellizistische Argumentationen. Seine Ausführungen stützte Sprecher auf Jähns (Krieg, Friede, Kultur), Kant, Ruskin, Treitschke, Moltke, Hamilton, de Maistre und Fichte. Sprecher glaubte, dass «Krieg sein wird und sein muss», machte aber geltend, dass «je seltener die Kriege werden», umso ernsthafter müssten sie vorbereitet werden, «damit Volk und Staat auch im Frieden Nutzen daran haben» und der Militärdienst nicht in eine kostspielige, trügerische Spielerei ausarte: «Immer mehr aber erkennt man der militärischen Ausbildung und Erziehung noch einen andern Zweck und Nutzen zu, den nämlich, die Mannschaft körperlich abzuhärten und zu kräftigen, namentlich aber in ihr den Sinn zu wecken und zu stärken für Disziplin, Gehorsam, Unterordnung unter die gesetzmässige Autorität, Aufopferung für die staatliche Gemeinschaft usw.»35 Die bellizistische Legitimation des Kriegs und die militaristische Legitimation des Militärs liessen sich zudem mit christlichen Vorstellungen untermauern. Die «höchsten christlichen Tugenden» können «im Kriege zur Entfaltung und Geltung» kommen: «Gehorsam und Treue bis zum Tode, Selbstverleugnung und Aufopferung, die vollständige Hingabe für das Vaterland und die Mitmenschen […]. Der Krieg ist dieser Welt so nötig, wie der Tod der sündigen Menschheit.»36 Diese äusserst stark bellizistisch orientierte Argumentation verstärkte Sprecher mit sehr zurückgenommenen machtstaatlichen Vorstellungen. Er schätzt zwar den Krieg als «Staatengründer» und «Staatenzerstörer» und gibt zu bedenken, «dass manch ein schönes, sein Volk beglückendes Staatswesen seine Regeneration oder gar seine Existenz» dem Krieg zu verdanken hat. Auch hier versucht Sprecher, christliche Gesichtspunkte einzubringen. «Fragen wir uns nur das eine, was aus der Reformation geworden